Otto Beckmann an Ernst Haeckel, Würzburg, 9. Dezember 1857

Würzburg d. 9. Decbr. 57.

Mein lieber Freund!

Obgleich es herzlich spät und mein Cadaver schwerer auf dem Stuhle liegt als gewöhnlich, so merke ich doch, dass es einmal wieder Zeit ist, Dir zu schreiben. Mich haben eine Reihe zum Theil recht langweiliger und ermüdender Arbeiten eine Zeitlang von jeder energischeren Thätigkeit ferngehalten und selbst meine Correspondenz hat darunter gelitten, der ich sonst gerne einige Stunden opfre, um so mehr als sie mich in Verbindung erhält mit lieben Leuten und mit andrem Stoff als woraus sich des Lebens Einerlei hier zusammensetzt. Vor allen Dingen habe ich Dir meinen Dank zu sagen für Dein liebenswürdiges Opus, dessen Auseinandersetzungen ich mit Aufmerksamkeit gefolgt bin und das mich recht erfreut hat. Freilich bin ich nicht in der Lage, daran meine Kritik zu üben, da mir das Grundmaterial fehlt, die eigene Anschauung; auch ist ja des Neuen und Interessanten so viel, dass man zu kritischen Gedanken gar nicht kommt. Andere Leute werden schon besseres darüber sagen als ich. Wegen Deiner Muskelbetrachtungen will ich indess bemerken, dass ich noch nicht überzeugt bin, dass die Fasern aus hinter einander liegenden Zellen entstehen; das Bild sieht allerdings so aus als ob, aber die Fötusmuskeln der Säugethiere, manche Fötusmuskeln haben ähnliche regelmässige Kerne, wenn auch nicht die Einschnürungen und doch entstehen sie aus Zellen durch einfaches Auswachsen einer einzigen, wie das jetzt selbst „die bedeutende Autorität“ hier glaubt. Ausserdem nur noch das, um einer alten Tugend nicht untreu zu werden, dass nach meinem Gefühl Du stellenweise etwas weite Expositionen aus allgemeiner Histologie angebracht hast, die an sich recht gut besonders in einem Lehrbuch der Histologie, aber sich unter den Krebsen doch etwas unheimlich fühlen möchten. Du siehst, ich kenne noch das alte Eselsein und wenn ich || auch nicht wünsche, dass Du mir Recht gibst, so wirst Du doch einsehen, dass der obige Gedanke meinem Wesen nicht fremd ist. Jeder nach seinem chacun sagt der Franzose. Auf geheimen Wegen ersehe ich, dass Du Dein anatomisches Examen mit allem Glanze vollendet und ich entlasse mit Freuden meinen ersten Glückwunsch; die anderen werden bald genug nachfolgen, Du brauchst nur zu befehlen. Daß Dich dieser Schwindel ein wenig in Wuth setzt, gehört nun einmal zur Sache; wozu wären sonst die Examina? Immer noch gut, wenn man darüber wüthen kann. Ich hätte auch Gelegenheit genug, ingrimmig zu werden, doch überlasse ich das meinen Gedärmen und schwäche mich nicht durch Erregung der Gefässmassen verschiedener Körperportionen, denn es kommt doch nichts dabei heraus. Meine öffentlichen Leistungen dieses Winters machen auf Originalität keinen Anspruch, ich bin nämlich so weit gesunken, Repetitorien zu geben, freilich einstweilen noch in der Physiologie und wenn ich auch nichts davon habe, so bin ich doch vielleicht einigen Leuten nützlich. Nebenbei mache ich in Nieren in alter Weise; ich sitze jetzt mit Macht hinter dem Bindegewebe in diesen liebenswürdigen Drüsen und habe schon ein ganzes Material beisammen, doch bin ich mir noch nicht klar genug und daher werde ich mit der Veröffentlichung meiner Sachen noch warten müssen. Die Untersuchung ist eben nicht die leichteste und da man ausserdem in rebus pathologicis vom Zufall abhängt, so wird die Lösung mancher Fragen noch ein weilchen auf sich warten lassen. Ich möchte vor Allem mir klar werden über die Betheiligung der Epithelien der Harnkanäle an etwaiger Bindegewebsbildung – resp. Eitererzeugung u. s. w., über die Beziehung der Gefässe || und der membr. propri eben dazu und dann über die Ursache der Bindegewebswucherung überhaupt, die sich oft genug in den Nieren einstellt. Das wird Dich, zootomisches Gemüth, schwerlich interessiren, aber trotzdem will ich Dir noch eine Geschichte erzählen, die pathologisch ist, freilich bei einem Hunde beobachtet wurde. Ich hatte im Juni einer drathigen Bestie die Aorta zu unterbinden gesucht, freilich wie sich zeigte, mit negativem Erfolg. Nach 4 Monaten wurde der Hund erlegt und es zeigte sich eine Strictur des Ureters mit entsprechender Urophie der Niere, dabei eine sehr hübsche Hypertrophie des linken Ventrikels. Ich habe die Sache in der physik. Gesellschaft gezeigt und die Erklärung à la Traube gegeben, weil ich kein anderes Mittel weiss. Um Dir zu zeigen, wie man hier wissenschaftlich verfährt, so noch Folgendes. Bamberger, der bekanntlich Traube’s Anschauung nicht theilt, fand auch diesen experimentellen Beweis nicht stichhaltig, ohne etwas dagegen anzuführen als dass der Hund vielleicht vorher eine Herzhypertrophie gehabt habe, wofür nichts vorlag, nicht einmal eine Wahrscheinlichkeit. Ich fragte dann, wie er die Sache erklären wolle und die Antwort: das weiss ich nicht. Das ist freilich sehr bequem, aber was nutzt das. Von einer Veränderung des Blutes kann hier noch weniger die Rede sein als anderswo, indem sowol durch den verengenden Ureter wie durch die hypertrophische andere Niere gewiss reichlich Harn abgesondert war. Das nur Dir ein kleines Stück Tagesgeschichte. Vorgestern war das Zweckessen der Gesellschaft und man konnte sich leicht überzeugen, wie matt und geistlos das Ganze war, besonders wenn man frühere Erinnerungen besitzt. Virchow’s wurde allerdings gedacht und zwar recht anerkennenswerth, aber lange nicht intensiv genug; die sonstigen Toaste bis auf einige mehr maliciös. Rinecker’s matt bis zum Tode, ja Müller verstieg sich sogar bis auf den Abtritt, um dort den geistvollen Gedanken seiner Rede zu finden. O Tempore! ||

Du siehst, ich bin bitter aber leider wahr, da bleibt keine Wahl. Ich sehne mich einmal wieder hinaus, um frische Elemente mir einzuverleiben, Herz und Geist neu zu beleben, denn das 2. Mittel, was man versuchen könnte, in einsiedlerischer Arbeit aus seinen Büchern die stille Begeisterung zu schöpfen, hält nicht immer Stich, man ist auch Mensch und die jugendliche Kraft will nicht später den Papieren der hölzernen Nahrung erliegen. Friedreich ist wie immer, sehr liebenswürdig gegen mich; er ist auch der Einzige, dem ich gerne vertraue, Kölliker ist nicht der Mann; wenn ich auch ihm reichlich verpflichtet bin, so scheucht mich irgend eine Geschichte, die sonst paßirt, wieder ab und dazu bin ich noch nicht gekommen, einen Menschen, den ich nicht unbedingt achten kann, zu lieben, hoffentlich komme ich auch nie dazu. Uebrigens ich will schweigen; ich vertraue diese Geschichten Deiner Diskretion; im Allgemeinen haben sie keinen grossen Einfluss auf mich, da Gewohnheit und meine Isolirtheit mich nicht in direkten Contakt bringen und mein verletztes Gefühl schweigen kann. Von den freundlicheren Gebieten des Freundeverkehrs ist leider diesmal wenig mehr als Negatives zu berichten. Lachmann hat seit seiner Hochzeitsanzeige nichts von sich hören lassen, offenbar ist er zu verliebt und da muss man wol schweigen; Danzig, Rostock nichts; von Boner fehlt jede Nachricht. Das übrige Volk lagert in Berlin und dass der Verkehr mit Euch nicht lebhafter, ist allerdings meine Schuld, an der ich schwer trage. Da Weihnachten eine Intermission in Deinem Examen herbeiführen wird, so werde ich es unschädlich für Deine Leistungsfähigkeit finden, wenn Du Deinem kleinen Würzburger Freunde einmal schreibst. Die ordinären Uhren gehen mit fabelhafter Geschwindigkeit und damit mein Bett nicht zu kurz komme, eile ich von Dir zu ihm.

Das ist einer der jähesten Wechsel, die in meiner Existenz vorkommen.

In aller Freundschaft und Liebe

Dein Beckmann

Grüße die Bekannten und gehab’ Dich wohl.a

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Brief Metadaten

ID
7825
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Datierung
09.12.1857
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
13,5 x 21,8 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 7825
Zitiervorlage
Beckmann, Otto an Haeckel, Ernst; Würzburg; 09.12.1857; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_7825