Käthe Besser an Ernst Haeckel, [Bonn], 2. November 1898
2.XI.98
Verehrtester Herr Professor,
Sie haben vielleicht schon eher Dank für Ihre letzten lieben Zeilen erwartet, aber ich wußte nicht, ob ich Sie nicht mit meinem trivialen Geplauder „anödete“. Auch mir hatte das Dasein gerade keinen angenehmen, glücklicherweise ganz seltenen Gast gebracht, einen heftigen, schon vier Wochen anhaltenden Bronchialkatarrh. Ich fange schon an eine gütige Schicksalsfügung, eine Vorsehung (à la Saladin) darin zu erblicken, die mir zu einer Riviera-Reise verhelfen will. Es hat mir von Herzen leid gethan, daß Sie verehrter Herr Professor, nach Ihrem schönen Aufenthalt in Baden, Differenzen in Ihrem home heimsuchten und hoffe ich sehr, daß sich [ ] wieder die Wogen der persönlichen Misere geglättet haben und das Befinden Ihrer lieben Damen wieder ein zufriedenstellendes ist! Und haben Sie nicht zu schwarz gesehen mit dem langen Ausspannen Ihres unentbehrlichen Famulus? Hoffentlich! Ich habe jetzt so [ ] dem wir uns kennen gelernt, daran denken müssen, wie mein Mann – so oft die Möglichkeit des Hausverkaufs an uns herantrat – a sagte „wir ziehen aber dann bestimmt nur nach Jena“. Möglich, daß wir das Haus im Frühjahr durch Bau-Spekulation um uns herum, noch schnell los werden, || dann stünden wir wieder vor der Alternative Jena – Berlin. Gegen letzteres sträuben sich alle meine Nerven, besonders der vagus und der nervus rerum. Hier, in Poppelsdorf leben wir vollständig wie auf dem Lande. Mein Mann, nie ein Freund von sogenannter Geselligkeit, hat sich seit einigen Jahren ganz und gar zurückgezogen wegen seines Alters. Wir sitzen hier Abend für Abend Whist-Bungalow im Sinne und ohne seine Robber könnte er wie auch Moltke, kaum auskommen. Am Tag sitzt er unausgesetzt über seinem Manuskript und geht nur eine Stunde in die Remise um à la Gladstone durch Holz-Sägen etc. seinen Muskeln das Gleichgewicht etwas zu gönnen.
Die Töchter haben etwas Leben ins Haus gebracht, besonders die älteste, sehr lebhafte. Aber in 14 Tagen ist sie bereits wieder in Berlin um mit Ernst das Studium des Portraits-Malens zu betreiben. Und meine Lotte will gehegt und gepflegt sein. Riesiges Wachsthum und der im Frühjahr überstandene || schwere Typhus, lassen sie mit großer Blutarmuth kämpfen. Es ist halt stets dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen und schließlich kein Wunder, wenn der größte Humor-Vorrath erschöpft wird. Der mächtige Hebel der Anpassung, die Gewohnheiten, finde ich garnicht so Segen spendend. Gewohnheit ist ach ein bittres Muß und gar Vieles findet darin seinen Erstickungstod und beständigen Hemmschuh, der schließlich ganz abstumpft. Bei Humor fällt mir ein – ich sandte Ihnen als Drucksache ein Blatt des Simplicissimus mit dem letzten Kaiser-Witz zu, Sie haben ihn doch erhalten? Er kreuzte sich mit Ihrem letzten Briefe. Bei der verrückten Palästina-Reise fällt mir eine wundervolle Stelle Ihres Vorwortes – bei der 9. Auflage Ihrer natürlichen Schöpfungs-Geschichte ein: „Und in der Neubelebung innerlich abgestorbener Institutionen, in der täuschenden Flucht zum Mysticismus etc. etc. etc. – Man könnte den Herrscher || freilich schon eher blind, als kurzsichtig nennen.
Zu meinem Kummer ging in der Schöpfungsgeschichte doch sehr Vieles über den Horizont meines inferioren weiblichen Intellektes hinaus. Als ich mir das Buch aus der Bibliothek von Strauss holen wollte, sagte der Buchhändler, vor einer Stunde habe ich das letzte Exemplar verkauft und mußte ich längere Zeit warten bis ichs erhielt. Die Ab- und Be- urtheilung des Gabriel Max-Bildes ist köstlich. In Ihrer Schrift „Der Monismus“ fand ich Ihren Lieblingsausdruck mir gegenüber – oft vor – Sie wissen, welchen ich meine, Ihre „Seele“ ahnt es. Amüsirt habe ich mich, wie Saladin Sie verehrtester Herr Professor mit Tyndall, Huxley u. Spencer etc. unter die entsetzlichen Personen aufzählt – Jehovah ein Gräuel. – Das Schönste und Liebste aus Ihrer Feder ist für mich, die Widmung „Liebste Mutter“ vor Ihren indischen Briefen! Sprechen kann ich darüber nicht, aber ich weiß sie auswendig. Hab‘ ich doch sob immer das Gefühl, als wenn die mikroskopische Monade zum geistigen Chimborasso hinaufredet.
Bitte um Nachsicht meines heutigen Briefes. Mein Mann treibt, daß der seine fort soll und so schrieb ich etwas sehr eilig. –
Adio – ich lerne fleißig Italienisch das ich zuletzt bei meinem Gesangstudium trieb und singe mein Mignon-Lied mit dem ich in einem Concert mal sehr siegte – kennst Du das Land. –
Mit tausend warmen Grüßen und dem Wunsche, daß Sie sich recht wohl befinden möchten, Ihre treu ergebene
Käthe Besser.
a gestr.: stets; b eingef.: so