Walter Berninghaus an Ernst Haeckel, Berlin, 12. November 1907
Berlin, N. W.
Alexander Ufer
3II
12.XI 1907
Herrn Professor E. Häckel,
Jena.
Sehr geehrter Herr Professor
Verzeihen Sie gütig, wenn ich mich zur Aufklärung mit einigen Fragen an Sie wende:
Nachdem Sie in Ihren wissenschaftlichen Werken den christlichen Glauben bis in die Grundfesten erschüttert haben, ist es doch klar, daß Sie den wichtigeren moralischen Teil || der christlichen Weltanschauung, also die Lehren Christi auch nicht mehr als haltbar anerkennen können, und der Monismus andererseits eine Ethik entwickeln muß, die der christl. nicht gerade ähneln dürfte, denn entgegengesetzte christl. & monistische (natur-)awissenschaftliche Weltauffassungen können sich in der Praxis für das moralische Leben doch b dann nicht mehr decken. Giebt nun die monistische Religion vollkommenere Lehren für das Leben als die unverfälschten Lehren Christi? ||
Es würde mich sehr interessieren von Ihnen zu hören, ob, resp. & wie weit Sie die moralischen Gesetze des Christentums anerkennen. Die Frage ist meiner Ansicht nach vor allem, welches Sittengesetz das vollkommenere an sich ist, & weniger welches ist in unserem spezifisch kommerziellen und industriellen Zeitalter & fürc den modernen Menschen mit all seinen Fehlern jetzt das praktischste!
Schließlich wäre ja noch vor dem Forum der Geschichte der Beweis zu erbringen, daß monistische Menschen besser & glücklicher lebten als || bisher die Christenwelt im engern & weiteren Sinne und der läßt sich durch einen hoffnungsfreudigen Glauben an seine gute Sache noch nicht ersetzen.
Einen großen Haken des Monismus finde ich nun in der Phrenologie; es ist mehr als wahrscheinlich, daß die überlieferten Christus Köpfe (einige) große Ähnlichkeit mit dem Menschen Jesu in seiner Vollkommenheit haben, und sehen Sie sich dagegen mal die Mehrzahl der monistischen Schädel von heute an: das angeborene menschliche Schönheitsgefühl wird allein deshalb denc wahren Christen vorziehen. ||
Denn gerade die Phrenologie zeigt, daß dem Menschen auch die Glaubenswelt an sich natürlich ist. –
Beinahe möchte ich fragen, wie Sie über den neugegründeten Keplerbund denken, doch glaube ich annehmen zu dürfen, daß Sie ihm nicht vielen wissenschaftlichen Wert beimessen.
Ich habe mich für Ihre Welträtsel etc. sehr interessiert und mit meinem Bruder oft diskutirt da er ein begeisterter Anhänger des Monismus ist. Darf ich nun hoffen von || Ihnen einige Zeilen zu erhalten? Ich würde mich glücklich schätzen, und begrüße Sie mit vorzüglicher Hochachtung & ganz ergebenst
Walter Berninghaus
a eingef.: (natur-); b gestr.: nicht; c eingef.: Zeitalter & für; c korr. aus: dem