Bergson, Eduard

Eduard Bergson an Ernst Haeckel, Warschau, 30. November 1875

Warschau, d. 30. November 1875

Hochgeehrter Herr!

Schon zum zweiten Mal nehme ich mir die Freiheit Sie zu belästigen. Die Gewogenheit, welche Sie mir zu erkennen gaben, indem Sie mich mit einer Antwort, auf meinen ersten Brief, beehrten, ermuntert mich auch diese Mal, mich an Ihre äußerste Gefälligkeit zu wenden.

Es handelt sich gegenwärtig um eine Frage, über welche ich mir Ihre entscheidende Meinung ausbitten möchte.

Es wird beinahe 6 Jahre sein, als mir ein sonderbarer Gedanke einfiel.

Ueber die Wunder der Natur nachdenkend, ihre Regelmäßigkeit betrachtend, endlich merkend, daß in ihr Alles aus [!] eine fortdauernde Entwickelung und Vervollkommnung zeigt, glaubte ich, daß, wie sich ein unstreitiges Band zwischen den oberen und unteren Thieren findet, es vielleicht auch ganz dasselbe zwischen dem Thier- und Pflanzenreiche sein wird. Kurz, meinte ich, daß es eine günstige Epoche gegeben haben mag, wo aus einem Pflanzenkeime ein unteres Thierwesen entstanden ist. ||

Heute, wo ich schon 21 Jahre alt bin und mehr Erfahrung habe, stellt sich mir diese Idee, obwohl noch immer fremd genug, doch als möglich dar. Es kann sein daß sie ganz absurd ist, doch finde ich Vieles, das mich an diesen Ansichtspunkt fesselt. Mit diesem meinem Gedanke unaufhörlich beschäftigt, habe ich mich nämlich überzeugt, daß alle die Merkmale, welche den s. g. formenklaren Unterschied zwischen d. Thier- und Pflanzenreiche beweisen sollen, größtentheils unzureichend und schlecht begründet sind.

Durch eine sehr lange Zeit hat man die willkührliche Bewegung, als ausschließlich den Thieren eigen betrachtet, bald aber hat man sich überzeugt, daß die Keime der blüthenlosen Wasserpflanzen, noch als Bläschen, vor dem Verlust ihrer Wimpern, und ehe sie zu wurzeln anfangen sich willkührlich (eigentlich ihrem Bedürfniß nach) bewegen.

Man hat nachgewiesen, daß im Pflanzen- sowohl als im Thierorganismus, Stickstoff befindlich ist.

Link glaubte, daß der Magen das einzige Zeichen des Unterschiedes, zwischen den zwei erwähnten Reichen sei. Da es aber Wesen giebt, die kein solches Organ haben, ist auch diese Ansicht ohne Werth. ||

Schleiden wollte nachweisen, daß alle Hauptorgane des Thierkörpers innerlich seien, die der Pflanzen aber äußerlich –, was offenbar falsch ist.

Einsehend, daß alle diese Ansichten ungenügend sind, meinte Siebold den wahren Unterschied der zwei Reiche in den primitiven Theilen der organischen Welt finden zu können. Er wies folglich nach, daß das Häutchen der Pflanzenzelle von der Thierzelle darin unterscheide, daß die erstere sich ausschließlich durch Wachsen äußert und die letztere außer dieser Specialität noch die Eigenschaft der Elasticität besitzt. Hermann Schacht zeigte aber, daß auch diese Meinung unrichtig ist.

Von dieser Zeit an, strebte man nicht mehr den Unterschied, sondern das Gemeinsame des Thier- und Pflanzenreiches zu finden.

Darwin meint, daß die niedersten und ältesten Thiere und Pflanzen von einem einzigen Urwesen abstammen.

In dieser Beziehung habe ich den wahren Schatz in Ihrem Werke: „Die natürliche Schöpfungsgeschichte“ gefunden, wo Sie ein übergehendes Reich zwischen den Thieren und Pflanzen aufgestellt haben.

Es existirt a, also kein entscheidender Unterschied zwischen den zwei in Rede stehenden Reichen, darum wage ich bei Ihnen anzufragen ob meine Idee: der Abstammung der Urwesen des Thierreiches von den || Urwesen des Pflanzenreiches noch zulässig ist?

Sie sind, Hochgeehrter Herr, ohne Widerspruch, der Einzige, der darüber etwas Entscheidendes sagen kann.

Ich erlaube mir daher mich an Sie zu wenden und Sie zu ersuchen mir gütigst auf die obengestellte Frage ausführlich antworten zu wollen.

Möglicherweise werden Sie mich, Hochgeehrter Herr, als einen Exaltirten oder Unwissenden ansehen, aber das was Sie vielleicht in Bezug auf meine oben ausgesprochene persönliche Ansicht, für unmöglich halten, belieben Sie auf Rechnung: eines für die Wissenschaft schwärmenden Geistes und der Untersuchungen eines, sich für diesen Gegenstand im höchsten Grade interessirenden Jünglings, zu stellen.

Ehe ich mich entschlossen habe diese Zeilen an Sie zu richten, schwebte ich zwischen der Furcht Ihnen die theure Zeit zu rauben und der Freude Ihre Ansicht über erwähnte Frage zu besitzen.

Möchten Sie mir, Hochgeehrter Herr, dieses mein Unternehmen gütigst entschuldigen.

Mit Hochachtung

Eduard Bergson

(Dzika No. 5)

P. S. Obwohl ich weiß wie sehr Sie mit Ihren Nachforschungen beschäftigt sind und ich Sie daher in keinem Falle, in dieser so fruchtbaren Arbeit, stören will, so nahe ich mich Ihnen doch mit der Bitte, um Beehrung Ihrer Antwort in einem Ihnen günstigen Augenblicke.

a gestr.: doch

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
30.11.1875
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 7442
ID
7442