Bergner, Franz

Franz Bergner an Ernst Haeckel, Zyrardow, 19. Mai 1907

Franz Bergner Zyrardow d. 19. Mai 1907

Sehr geehrter Herr Professor!

Wie schwer ist es Wahrheiten zu finden, weiß jeder denkende Mensch. Was wir in der Welt zunächst sehen, wissen u. für wahr halten ist eitel Trug u. es nimmt sich fast aus als wollte uns die Natur absichtlich * äffen und zum besten halten; überall ist die Täuschung, der Schein, das Falsche erst und nach langem erst ringt sich das Wahre durch. Da ist z. B. im Menschen das Verlangen u. Streben nach Glück so ungeheuer groß u. glaubt auch, wenn etwas in Aussicht das erlangen wonach er verlangte das wahre zu erhalten; nachträglich aber stellt sich’s heraus, daß es nicht das ist was er sich vorstellte, sondern das Gegenteil; das Schöne liegt eben schon zurück u. ist vergessen u. nur das Gegensätzliche ist ihm gegenwärtig; er meint immer wieder, das wahre Glück liege noch in der Zukunft; ein fortwährendes haschen u. täuschen. Weiter! Da sehen wir den Vogel fliegen u. nehmen an daß er mit den Flügeln schlägt, was gar nicht der Fall ist: der Vogel ist bestrebt die Flügel gleichmäßig gespannt zu halten. Die Stösse aber die er nach unten ausführt, bewirken, daß sich die Sehnen entsprechend dehnen u. demzufolge die Flügel nach aufwärts gebogen werden. Weiter!

Da laß ich zu wiederholten malen in der Deutschen Warte ganz ausführlich von der sog. Adhäsion || (habe auch dorthien einmal meine Meinung geschrieben) dort hieß es: Zwei gut geschliffene Glas oder Metallplatten aufeinander gelegt, sind nicht mehr so leicht auseinander zu bringen infolge der Adhäsion. Es ist doch merkwürdig daß man ähnliches so leichtfertig in Umlauf bringt u. seine Mitmenschen wenn auch unabsichtlich im Seuchten erhält: Ich habe zwar experimentel selbst nichts gethan um das zu widerlegen; aber das muß man doch auch ohne dies erkennen, daß das unrichtig ist. Die Sache wird sich wahrscheinlich so verhalten: werden die zwei Platten zusammengelegt, so entweicht die dazwischen befindliche Luft; will man dann die Platten von einander trennen so ist keine Öffnung vorhanden wo sie wieder dazwischen hinein kann: die Luft presst dann so fest, als die darauf ruhende Luftsäule schwer ist. Diese Platten in einen luftleeren Raume gebracht, würden sofort auseinander gehen. Ein weiteres Beispiel:

Für unkultivirte Völker läuft heute noch die Sonne täglich einmal um die Erde u. der Mond wurde zunächst für eine Scheibe gehalten u. man sagt heute noch die Mond, die Sonnenscheibe.

Da heißt es ferner von der Entstehung unseres Sonnensystems, daß die Planeten von der Sonne abgetrennt, abgeschleudert wurden; sollte ein Weltkörper einen Teil von sich abschleudern, so müßte das eine nicht ihm gehörende Kraft thun, also eine fremde Gewalt und würde diese fremde Gewalt abzuschleudernte Massen soweit schleudern wollen als sie tatsächlich entfernt sind, so müßte diese Masse zerstäuben: Man könnte auch daraus schließen, daß die Sonne einmal im Finsteren bleiben müßte. Das wird aber nicht der Fall sein: Die Sonne hat Aussicht auch ihre Sonne zu bekommen wenn sie abgekühlt ist, gegenwärtig strebt sie ja || dem Herkulessternbild zu: Die Veranlassung dazu ist aber nicht etwa die viel herzuhaltente Anziehungskraft des größeres Gestirnes, sondern eine ganz zwanglose Ursache: Freilich gehört um dies erkennen zu können eine fertige Weltanschauung, die die Gegensätze vereinen, das Gegebene auch in’s Gegensätzliche verwandeln kann.

Wer wird denn heute glauben, oder einsehen daß ein Weltkörper nichts wiegt? Und doch ist dem so.

Würde man, wenn die Sonne Planet geworden ist und den Herkules als Sonne hat, auch sagen, sie sei ein von ihrer Sonne abgeschleuderter Körper?

Wie schon gesagt, ist zunächst alles was wir sehen, wissen u. für wahr halten eitel Trug: es muß dies alles erst erkannt werden. Soll eine Aussage Wahrheit sein, so muß sie Alles enthalten z. B. das Weib ist schön und ist nicht schön; eine Freude, eine schöne Empfindung ist angenehm u. unangenehm (denn sie muß zum Gegensätzlichen werden) Eisen sinkt zu Boden u. steigt auch; das Leben hat Werth u. hat keinen Werth; die Weltkörper haben Gewicht u. haben keins. Gott ist u. ist nicht. etc etc

Kann man beide Aussagen rechtfertigen, so hat man das wahre getroffen.

Sagen wir vom Weltanfang, die Zeit verfloss, der Raum ward älter, anders, so kann das immer noch nicht heißen, der gesammte unendliche Raum wird aufeinmal älter, anders: denn „Ganz“ heißt etwas abgeschlossenes. Der unendliche Raum aber ist nichts abgeschlossenes.

Das Älter, Anderswerden kann also nur etwas fortschreitendes sein; wenn wir es uns auch noch so schnell vorstellen. Der Unendlichkeit gegenüber gilt keine Zahl; mag sie noch so groß sein so macht sie doch noch keinen Teil aus. Also findet ein ewig fortschreitendes Älter-Anderswerden statt u. man kann vom unend-||lichen Raum dasselbe sagen, was wir von den Dingen in der Welt sagen können; wir können sagen, er ist lebendig u. tot; es giebt helle u. dunkle Räume, kalte u. warme etc.

Da aus unsichtbarem Weltäther etwas Sichtbares werden soll, so kann man sich vorstellen wie dünn und ausgedehnt er sein muß u. welches Volumen dazu gehört um etwas sichtbares daraus zu erhalten: bilden sich nun Anfänge zu einem Weltkörper d. h. beginnt eine Verdichtung des Weltäthers um einen Mittelpunkt, so tritt Bewegung ein im Weltäther u. z. muß zur Raumparthie von allen Seiten Weltäther zuströmen; die Verdichtung wird größer u. größer; zunehmende Verdichtung bedeutet zugleich zunehmende Erwärmung u. es bedingt Eins das Andere. Auf unserer Erde bedeutet Erwärmung Ausdehnung; im Weltäther bedeutet Erwärmung Verdichtung; oder Verdichtung, Erwärmung. Geschieht nun eine Verdichtung z. B. von der 100fachen Größe eines Sonnenballs, so strömt von allen Seiten Weltäther zu weil er sich doch um einen Punkt mehr u. mehr verdichtet (aus dem Nichts soll doch etwas werden) die äußerste Grenze die Stoff zuliefern muß liegt wohl viele millionen Meilen entfernt: Alles darin befindliche, etwa Weltkörper, Meteore etc schwimmen mit u. nähern sich diesem Neuentstehenden.

Auf diese Weise auch gelangten unsere Planeten zur Sonne, und die Sonne schwimmt gegenwärtig auf das Herkulessternbild zu: mit ihr wahrscheinlich mehrere u. so kann es in alle Ewigkeit fortgehen.

Für den Weltraum (Weltäther) haben Weltkörper kein Gewicht: was wir Schweere nennen ist Kristalisationskraft. Die Kristalisationskraft unserer Erde nicht bis zu einer bestimmten Höhe; || da unsere Erde allmählig abkühlt, die Kristalisation fortschreitet u. die noch zu kristalisirende Masse kleiner und kleiner wird, so wird auch der Durchmesse der Anziehung immer kleiner u. kleiner. Bis zur vollkommenen Abkühlung hört alle Anziehung auf d. h. a auch, lose Körper wiegen nichts mehr.

Der Weltkörpermasse an sich kommt die Anziehung nicht zu, denn sonst müßte sie ewig anziehen; das kann aber schon aus dem einen Grund nicht sein, indem alles beständig älter, anders wird und eine bestehende Eigenschaft daher nur für endliche Zeiten gilt.

Daß alles nur eine bestimmte Lebensdauer hat, sehen, erkennen wir ja in den Dingen der Welt. Eine Eintagsfliegeb, eine Freude, ein Glücksgefühl oder sonst ein Ding, hat eine kurze Lebensdauer u. es tritt das Gegenteil ein: selbst Wahrheiten hat es gegeben und giebt es noch die nur eine bestimmte Lebensdauer haben (es giebt Wahrheiten verschiedener Größe u. es giebt eine Wahrheit die alle anderen enthält) daß Christus z. B. die Menschheit beglückte ist Wahrheit gewesen; heute ist es nicht mehr Wahrheit, denn wir wissen, daß wir gleiches mit gleichem; Unglück gleich dem Glück, Leiden gleich den Freuden etc empfangen müssen.

(Der Vogelflug ist nicht das was er schien; der Mond ist keine Scheibe; eine Sündfluth ist kein Ereignis, die Welt ist kein Wunder, viele Wahrheiten sind keine Wahrheiten. Bazillen sind nicht die Ursache der Krankheit, sondern Nachkommen der Krankheits-||ursache) was also hier und heute gilt, braucht nicht anderswo u. in anderen Zeiten zu gelten. Vor ungenannter Zeit hat unsere Erde nichts gewogen, weil sie noch nicht war; u. wird auch später nichts mehr wiegen weil sie überhaupt nicht mehr sein wird.

Wie wir 1.2.3.4 u. s. w. zählen, so zählt auch die Natur; d. h. alles geht Schritt für Schritt. Entstand unser Weltkörper, die Erde, so schwamm der in ihrer Sphäre befindliche Mond mit dem Zustrom des Weltäthers in Erdnähe. Wir d. h. unsere Erde u. mit ihr mehrere Weltkörper schwammen der Sonne zu, sobald sie anfing sich zu bilden u. langten vielleicht an als unsere Erde Planet wurde. Die Sonne wiederum schwimmt dem Herkules zu, mit ihr schwimmen auch alle zugehörenden Planeten mit. Höchstwahrscheinlich schwimmen auch von mehreren Richtungen Weltkörper verschiedenen Lebensalters zu; sind dann alle in bleibender Nähe angekommen, so kann sich wieder in ungeheurer Ferne ein neuer Weltkörper bilden und die ungeheuer weit entfernten Weltkörper in Bewegung setzen durch den Zuzug den die Verdichtung veranlaßt; ein ewiges Fortschreiten u. Nachsichziehen, ein sich Ausdehnen nach allen Seiten.

Ob dieses Werden der Weltkörper nicht schon bei den sog. unendlichkleinen begann? Zum Fortschreiten in’s Unentliche ist ja Raum da für c ewige Zeiten. Ein Weltköper von Billionen Sonnenfernen Durchmesser nimmt vom unendlichen Raum nicht mehr Platz weg wie ein Hirsekorn. ||

d , daß auf allen Weltkörpern orga- e zu einer Zeit existiren (ich sage zu einer Zeit, weil nicht alle Weltkörper gleichzeitig entstanden und auch nicht von gleicher Größe sind: Ist die Temperatur eines jungen Weltkörpers, eines Planeten weit genug herunter gegangen, so wird oder muß organisches entstehen, das dann je nach Größe des Weltkörpers Millionen von Jahren betreffen kann) auch solche mit Vernunft begabte. Ich schließe das daraus, wie ich schon früher einmal schrieb „indem auf Allem das Gegensätzliche folgt u. folgen muß“ aus den plumpsten, ungeschlachten, gröbsten, schwerfälligstein, unintelligentesten etc Thieren mußten sich naturgemäß feinste, zierlichste, behende intelligenteste etc entwickelnf. Ist also eine unwillkürliche, vernunftlose, sich nicht selbsterkennende, den Naturgesetzen blind gehorchende, unbewußte etc Materie vorhanden, so muß das Gegensätzliche folgen; es muß willkürlichg bewegliches, sich selbst u. alles erkennendes etc erscheinen: dem nach blinden, unbewußten Naturgesetzen folgenden, muß das Gegenteil folgen. Wir gehören zur Welt u. sind mit ihr ein Ganzes, mithin wurde die einst nach sog. blinden Naturgesetzen folgende Weltmaterie eine sich beobachtende, selbsterkennende, sich bewußte, vernünftige Weltmaterie. Daß wir vernünftige Geschöpfe sind, ist also eine natürliche Folge von Zeit und Raum.

Da zeigt sich auch gelegentlich, daß das Wissen ein sich entwickelntes Wachstum ist u. daß nicht die Vergangenheit das Flugschiff erfunden, sondern, daß erst die Zukunft das vollkommene Wissen haben wird, und will man das Wissen das Christus zugeschrieben wird u. das unwandelbar sein soll treffend beleuchten, so heißt es: Er hat ja läuten gehört, aber erh wußte nicht wo die Glocken hängen. ||

Ferner ist daraus zu ersehen, daß i erscheinen muß u. daß nichts in Raum j unterdrücken.

Mit dem erkennen der Wahrheiten geht es gerade so wie mit allen Dingen in der Welt; dieses Erkennen wird ebenfalls anders und anders u. schließlich zum Gegensätzlichen: daß Gott die Welt schuf u. daß es überhaupt einen Gott gab, ist Wahrheit gewesen; diese Wahrheit aber ist naturgemäß anders u. anders u. schließlich auch zum Gegensätzlichen geworden. Gott ist nicht. Der Todeskeim eines jeden Dinges liegt eben schon in der Geburt des Dinges u. mit dem Erscheinen eines Dinges ist auch schon das Gegensätzliche gegeben: Mit dem Dichterglück z. B. erscheint auch der sog. Weltschmerz, mit der Freude, das Leid etc und dieselbe Gerechtigkeit wird auch solche vergängliche Wahrheiten.

Der Gottesgedanke war eine endliche Größe, eine endliche Zeitfülle die der Unendlichkeit gegenüber, klein, bedeutungslos ward u. endlich verschwand.

Solch endliche Wahrheiten sind nie so hart u. glatt polirt, daß nicht der menschliche Geist sich ansetzen, zerstörend und auflösend wirken könnte.

Nichts ist zu fein gesponnen, es kommt doch an die Sonne; das gilt auch von solchen Wahrheiten

Hochachtungsvoll

Bergner ||

* Absicht ist’s nun nicht, sondern ganz natürlich: Da Alles zum Gegensätzlichen wird, werden muß, so kann das Gegebene das doch eine verschiedenlange Lebensdauer hat, auch nicht gleich in das Gegensätzliche verwandelt sein. Es muß uns anfangs jedes Ding anders scheinen als es ist, es muß erst nach und nach das Ganze, das Wesen erkannt werden.

Wenn wir schön empfinden, sagen wir z. B. durch den Ausspruch „Kommt Alle die ihr mühseilig u. beladen seit, ich will euch erquicken“ so haben wir erst das halbe und zwar das schöne empfunden; dieses schön empfinden muß sich erst verändern und zum Gegensätzlichen werden, u. erst wenn wir auch das Gegensätzliche empfunden haben, haben wir das Ganze. Um die gegensätzlich große Zahl k von der kleinen Zahl ausgehend zu erreichen, müssen alle einzelnen Zahlenstellen durchlaufen sein: Es kann somit auch von einem zufälligen Wissen nicht die Rede sein oder wie man es früher mit Vorliebe hieß göttliche Inspiration. Wirkliches Wissen beruht also auf festem zahlenmäßigem Grund. Die Menschheit konnte somit erst über den Glauben zum Wissen, über der Unwahrheit zur Wahrheit, über den Schein zur Wirklichkeit, über den Dafürhalten zur Überzeugung etc gelangen: wie schon gesagt; jede Zahlenstelle mußte durchlaufen sein.

Die sogenannten vorsintflutlichen Menschen nahmen an, daß aller leiblichel Genuß das wahre Glück sei, sie stürzten sich daher mit voller Wucht in die Genüsse: der Gegenstoss, das Gegensätzliche mußte folgen, sie mußten ernüchtern, Lehren mußten || mußten auftauchen die warnten; es mußte eine Religion entstehen, sich ausbilden die darthut, das die sog. Sünde bestraft wird: man mußte durch langer Zeit zu Erfahrungen gelangen. Zu den Erfahrungen paarte sich Phantasie: es wurde ein Wesen, Gott, der Glaube geschaffen, ein Gott der alles das so leiten soll: man hörte zwar läuten, wußte aber nur nicht wo die Glocken hängen. Dem Glauben folgte das Wissen. Giebt es nun Einzelne, Familie, Nationen, Völker etc welche annehmen daß Genuß wahres Glück sei u. dadurch thun u. lassen, so müssen sie natürgemäß zu schanden werden, denn das Gegensätzliche muß folgen.

a gestr.: das; b korr. aus: Eitagsfliege; c gest.: alle; d Textverlust durch Papierausriss; e Textverlust durch Papierausriss; f Text weiter am linken Rand von S. 6.: aus den … etc entwickeln.: g korr. aus: willkürliches; h eingef.: er; i Textverlust durch Papierausriss; j Textverlust durch Papierausriss; k gestr.: Zu; l korr. aus: leiblicher

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
19.05.1907
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 7438
ID
7438