Berdrow, H.

H. Berdrow an Ernst Haeckel, Berlin, 9. November 1884

Berlin, den 9. November 1884.

Geehrter Herr Professor!

Verzeihen Sie einem Laien dieses Eindringen in Ihre Zelle und diesen Raub an kostbarer Zeit, der Ihnen nach dem Lesen meines Briefes vielleicht um so weniger entschuldbar erscheinen wird, als mein ganzes Anliegen möglicherweise auf Irrtum, auf Mißverständnis Ihrer Meinungen beruht. Mit einer pädagogischen Arbeit über Individualität beschäftigt war ich vor kurzem genötigt, Ihre Perigenesistheorie zu studiren, und bin da in ein Bedenken geraten, aus dem ich keinen anderen Ausweg weiß, als indem ich Sie um freundliche Auskunft bitte.

Nachdem festgestellt ist, daß Uebertragung von Bewegung der tiefste Grund der Vererbung ist und daß der biogenetische Proceß als eine periodische Bewegung verläuft, heißt es (Popul. Vorträge, Heft 2 S. 66): „Das anschaulichste Analogon desselbena finden wir im Bilde einer verwickelten Wellenbewegung.“ „In jedem Falle läßt sich die Entwickelungsbewegung unserer Ahnen-||reihe unter dem einfachsten Bilde einer Wellenlinie vorstellen, in welcher das individuelle Leben jeder einzelnen Person einer einzelnen Welle entspricht.“ Auch im Stammbaum unserer tierischen Ahnenreihe läßt sich (S. 67). „Die Entwickelungs-Bewegung jeder einzelnen Person durch eine Welle andeuten. Der ganze Stammbaum erhält so das Bild einer verzweigten Wellenbewegung.“ (ibid.): „Dasselbe Bild einer verzweigten Wellenbewegung, welches uns so die Entwickelungs-Geschichte jeder menschlichen Familie, die Genealogie jeder Dynastie im Kleinen darbietet, dasselbe finden wir im Großen wieder, wenn wir das natürliche System der Organismen im Lichte der Descendenztheorie betrachten.“ Bis dahin ist also „Wellenbewegung“ nur als Bild gebraucht, den Vorgang der Vererbung recht klar zu veranschaulichen. Sie ist nichts Reales, nur ein Gleichnis. Es heißt dann weiter (S. 69): „Nun haben wir gesehen, daß die Entwickelungsbewegung der Stämme u. Klassen, …, der Personen u. Plastiden immer u. überall die charakteristische Grundform der verzweigten Wellenbewegung hat. Demnach kann auch die molekulare Plastidul-Bewegung, welche allen jenen Vorgängen zu Grunde liegt, in Wirklichkeit keine andere Form besitzen. Wir müssen schließen, daß auch diese Elementar-Ursache des Lebensprocesses, daß auch die unsichtbare Plastidul-Bewegung eine verzweigte Wellenbewegung ist.“ Hier komme ich ins || Gedränge. Bisher Gleichnis, Veranschaulichungsmittel, wird die Wellenbewegung mit Einemmale eine wirkliche Eigenschaft der Plastidule. Denn daß nun nicht mehr bildlich gesprochen wird, daß den Plastidulen vielmehr eine reale wellenförmige Bewegung zugeschrieben wird, wie wir sie den Aetherteilchen, welche auf der Netzhaut den Anstoß zu Farbeempfindungen geben, belegen, bestätigen Sätze wie folgende (S. 70): „Indem wir dergestalt eine unterbrochene verzweigte Wellenbewegung der Plastidule als die bewirkende Ursache des biogenetischen Processes annehmen etc.“; (S. 74): „Alle Formen der Fortpflanzung hängen ab von der Uebertragung der Plastidul-Bewegung, welche blos von dem zeugenden Teile des Körpers auf die erzeugten Plastiden direct übertragen wird, aber weiterhin vermöge des Gedächtnisses und der Arbeitsteilung der Plastidule die Wellenbewegung der Vorfahren in den Nachkommen ganz oder teilweise reproduciren kann.“

Die Möglichkeit eines solchen wirklichen periodischen Sichbewegens der Plastidule innerhalb des Plassonkörpers in Wellenform, über die zu urteilen ganz außer meinem Bereich liegt, gebe ich gern zu; sie ist mir wahrscheinlich, diese Art der Bewegung; nur scheint es mir ein Trugschluß, ein logischer Fehler, sie aus einer nur zum Vergleiche oder zur Veranschaulichung herbeigezogenen Bewegung oder, || besser gesagt, aus dem vorher angewandten Vergleiche der individuellen und phylogenetischen Vererbungs-Bewegung mit einer verzweigten Wellenbewegung zu schließen. – Ich finde nicht, daß Forscher, welche sich Ihrer ausgezeichneten Hypothese bedient haben, wie Dr. Overzier im I. und Dr. Hentschel im VIII Bande des „Kosmos“, Bedenken gegen den mir unklaren Punkt geäußert haben, und das bestärkt mich in der Ueberzeugung, daß wahrscheinlich nur ein Irrtum meinerseits vorliegt, den ein freundlich aufklärendes Wort von Ihnen heben könnte.

Ich beabsichtige, vom monistischen Standpunkte aus eine Reihe von psychologischen Aufsätzen über die schwierigeren Probleme des Seelenlebens zu schreiben und in unserer vornehmsten pädagogischen Zeitschrift, dem Sittes’schen „Pädagogium“, dessen Mitarbeiter ich bin, zu veröffentlichen, hauptsächlich zu dem Zwecke, meine Standesgenossen in die Entwickelungslehre und den Darwinismus einzuführen, von deren Studium die Lehrerwelt durch eine Scheu eigentümlicher Art leider noch ihrem größten Teile nach abgehalten wird. Die Psychologie scheint mir dazu der bequemste Weg; denn zu einer Einführung dieser Ideen in den Seminarunterricht, wie Schneider fordert am Schluß || seines Werkes „Der menschliche Wille“, möchte es wohl kaum jemals kommen. Anregungen privater und literarischer Natur werden noch auf lange hin das schwache und unzulängliche Mittel sein, einen Stand, auf dessen Schultern die Arbeit der Ausbreitung unserer herrlichen Weltanschauung ganz besonders liegen sollte, in dieselbe auch nur kläglich und ganz allmählich einzuführen. Ich könnte unter den Hunderten von mir persönlich bekannten Kollegen vielleicht ein halbes Dutzend von überzeugten und in der Idee der Entwickelungslehre als neuer Geistesatmosphäre wirklich lebenden Anhängern zusammenfinden.

Gestatten Sie mir zum Schluß, Ihnen – wozu es mich schon lange getrieben – meinen innigen Dank auszusprechen für den Genuß und die erhebende Klarheit, welche das Studium Ihrer Werke über mein Herz ausgegossen hat.

Mit vorzüglicher Hochachtung

Ihr

ganz ergebener

H. Berdrow,

Lehrer

Berlin, S. Fürstenstr 15.I.

a eingef.: desselben

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
09.11.1884
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 7334
ID
7334