Conrad Keller an Ernst Haeckel, Zürich, 1. November 1916

Zürich dℓ. 1. November 1916

Hochverehrter College und Freund!

Sie hatten die Liebenswürdigkeit, mir kürzlich Ihren schönen Beitrag zur Arnold Lang-Biographie zugehen zu lassen, was mir natürlich grosse Freude bereitet hat.

Einmal ersehe ich daraus, dass sich Ihre geistige Frische wunderbar gut erhalten hat. Sodann erscheint Ihre vornehme Gesinnung, die ich von jeher hoch eingeschätzt habe, wiederum in schönster Beleuchtung.

Sie gedenken auch meiner Person in sehr schmeichelhafter Weise. Gewiss war ich nicht gerade faul, aber ich muss mir doch oft sagen, dass ich eigentlich noch mehr hätte leisten sollen.

Dass ich mit meinen Haustier-Studien || auf ein zwar schwieriges, aber ungemein dankbares Gebiet gelangt bin, habe ich wohl gefühlt. Aber es war doch ein reiner Zufall; ebenso sind zufällig wirklich gute Freunde es gewesen, denen ich es verdanke, dass ich viele grössere Reisen ausführen konnte.

Ich möchte auch zukünftig noch etwas leisten, denn ich fühle mich noch rüstig, obschon ich in den nächsten Monaten in mein 70. Lebensjahr eintrete.

Zwei grössere Werke sind in Arbeit, davon eines im Manuscript bereits vollendet.

Unser Winter-Semester hat recht gut begonnen. Im neuen Institut meldeten sich für meine verschiedenen Vorlesungen über 160 Zuhörer. Darunter figurieren auch viele deutsche Internierte.

Die armen Jungens haben im Krieg gelitten, mussten ihre Studien || unterbrechen und so gewähren wir denselben weitgehende Gastfreundschaft.

Einen recht peinlichen Eindruck machte in unseren schweizerischen Naturforscherkreisen das neueste biologische Werk von Oscar Hertwig. Man lehnt es hier allgemein ab! Trotz gegenteiliger Versicherung – Qui s’excuse, s’accuse – halten wir dafür, dass Hertwig die englandfeindliche Strömung geschickt benutzen will, um Darwin zu discreditieren. Es ist das nicht vornehm.

Mir sind die Söhne Albions ihrer Heuchelei wegen unsympathisch, ja verhasst.

Aber Darwin, wenn auch Engländer, war eine absolut ehrliche Natur, er ist auch von seinen Landsleuten oft genug verlästert worden.

Wir halten dafür, dass Hartwigs schroffe Ablehnung des Darwinismus selbst in Deutschland wenig Schule machen wird, ja ihm selbst geradezu zum Verhängnis werden kann. Dieser Meinung sind hier alle Deutschen || Kollegen, mit denen ich sprach, dieselben urteilen sogar sehr schroff über diese Schwenkung eines sonst sehr begabten Biologen.

Dass er im Nachwort die ungeheuerliche Behauptung aufstellt, die Verwendung der vergleichenden Anatomie für Abstammungsfragen sei ganz unzulässig, hat mich beinahe starr gemacht. Wir haben hier eine so hohe Meinung von der deutschen Wissenschaft, dass wir sicher sind, dass solches Zeug abgelehnt wird.

Wenn Sie auch an der Sache wenig Freude haben werden, so seien Sie ganz unbesorgt. Die Phylogenie wird von O. Hertwig nicht zu Grabe getragen. Wer noch die Kraft verspürt, wird unentwegt für Ihre wissenschaftlichen Güter einstehen.

In dieser frohen Aussicht sende ich Ihnen meine herzlichen Grüsse

Ihr ergebenster

C. Keller

Brief Metadaten

ID
6788
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Schweiz
Entstehungsland zeitgenössisch
Schweiz
Datierung
01.11.1916
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
13,3 x 17,6 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 6788
Zitiervorlage
Keller, Conrad an Haeckel, Ernst; Zürich; 01.11.1916; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_6788