Zürich, dℓ. 15. Jan. 1899
Verehrtester Herr College!
Die Turiner Akademie hat Ihnen, wie ich der Tagespresse entnehmen kann, mit einem hübschen Neujahrsgruss aufgewartet u. Ihnen den Preis von 10,000 Franken zuertheilt.
Wir sind hier in Zürich sehr erfreut, dass Ihnen diese so wohlverdiente Auszeichnung geworden ist, denn die Challenger-Beiträge allein enthalten ja eine ganz gewaltige Summe von Arbeit.
Ich möchte Ihnen daher meine beste Gratulation darbringen – die Summe gibt ja die Annehmlichkeit für Sie, eine schöne Reise nach Griechenland oder nach dem wunderbaren Pharaonenlande zu unternehmen. Sie haben ja || zum Glück eine für Ihre Jahre ungewöhnliche Rüstigkeit des Körpers u. die volle Frische des Geistes behalten, so dass Sie für die nächsten Jahre ohne Bedenken einen grösseren Ausflug unternehmen können.
A propos Ihrer „Welträthsel“. Aus theologischen Kreisen bin ich vielfach interpellirt worden, seit ich dieselben besprochen. Die Leute meinen, dass das theologische Geschäft einfach einzustellen wäre, wenn man Ihren Standpunkt einnehmen wollte.
Merkwürdig, sogar ganz aufgeklärte Köpfe haben mir persönlich opponirt.
Es ist mit dies neuer Beweis, dass 1) unsere ganze Gymnasialbildung im Prinzip längst nicht mehr || auf der Höhe ist u. 2) dass das heutige Studium der Theologie die Grosshirnrinde so nachteilig verändert, dass eine Reparatur derselben nur bei ganz besonders kräftigen Individuen möglich ist.
Indessen haben die Herren Hochwürden doch nicht gewagt, offen entgegenzutreten. Sie machten einen Versuch in der Neuen Zürcher Zeitung, unserem einflussreichsten Organ, doch habe ich dort den Weg verrammelt. Der naturgemässe Gang der Entwicklung wird sich auch auf diesem Gebiet nicht aufhalten lassen. Darüber haben wir ja längst volle Gewissheit.
Indem ich Ihnen also zur nächsten Aegypten- oder sonstigen Orientreise schon zum Voraus meine besten Wünsche entbiete, bin ich mit freundlichsten Grüssen stetsfort
Ihr ergebenster
C. Keller