Otto Borngräber an Ernst Haeckel, Halle, [3. Juni] 1900

Halle a. S., Pfingsten 1900

Hochgeehrter Herr Prof.!

Gestatten Sie, daß ich Ihnen meine herzlichen Pfingstgrüße übermittele. –

Bei der Gelegenheit darf ich Ihnen vielleicht auch einiges über den Fortgang der „Bruno“-Angelegenheit mitteilen. Da Herr Weiser infolge Überarbeitung zur Rolle des „Bruno“ nicht fest genug fühlt, so mußte er sich auf die bloße Regie beschränken. Wir waren in größter Verlegenheit, woraufhin ich mich an Wiecke – Dresden wandte und in ihm einen großen Förderer || der Sache fand. Er antwortete mir sofort: „Ich werde und will Ihren Bruno spielen. Sie haben mir eine Aufgabe geschaffen, die meiner Individualität in Tiefsten entspricht, und ich hoffe, ihr gerecht zu werden. Ich gebe dem ganzen Unternehmen eine weitgehende Perspektive, wir werden es hoffentlich in allen großen Städten, besonders auch in Berlin zur Geltung bringen. Ich bin begeistert von dem wundervollen Werk etc.“

Wiecke geht in seiner Sympathie so weit, daß er in „Bruno“ als einer „Verbindung des großen historischen mit dem modernen Geist“ ein „Ideal des Zukunftsdramas“ sieht und sogar auf epochemachenden Erfolg hofft. Somit ist der große und schwere Zweifel an mir selbst, der im Winter durch die Bedenken der Meininger Hoheiten geweckt wurde, endgültig überwunden, da ich in Wiecke unseren größten Künst-||ler neben Kainz verehre.

Unsere Bedenken und Sorgen sind jetzt ganz anderer Art; zwar geringer, und doch groß genug, das schöne Unternehmen, nahe der Vollendung, zu kreuzen. Wiecke will und kann auf keinen Fall mit den Weimaranern (außer Weiser und wenigen nicht bedeutend) in Berlin auf-treten und will die geplante Tournée in die Saison verlegen, andererseits aber jetzt auf alle Fälle sich Leipzig und die Weimaraner nicht entgehen lassen. Die Leipziger Unternehmung auf alle Fälle, sogleich, zu Ende zu bringen, rät mir aufs dringendste auch Entsch. Nun fordern die Weimarer – außer Weiser – wider Erwarten so hohe Gagen, daß wir, falls wir uns jetzt nur auf Leipzig beschränken, und falls wir nicht ganz bedeutenden Zuspruch erhalten, trotz der gänzlichen Freistellung von Theater und Kostümen zu mehreren Aufführungen, rund heraus ein Defizit von 1000 bis 2000 M machen – das weder die – gänzlich bankrott-Kasse der Fin-||kenschaft, die sich zu nichts verpflichtet, noch ich tragen kann. Es gilt dieses schwierige Dilemma Donnerstag bei der Kontraktunterzeichnung in Weimar zu überbrücken. Ich fürchte nicht mit Ungrund, daß hier eine Brücke nicht zu finden ist und wir wieder ratlos am Ufer des herzlosen Stromes stehen, der das Land der Wirklichkeit von dem der Ideale trennt. Es wäre freilich eine neue tragische Ironie des Schicksals, nachdem es mir das Land endlich in greifbare Nähe vor Augen gerückt, die Betretung des festen Landes zu verwehren. Doch hoffe ich auf irgend welche Lösung des Problems werde mich morgen, auf Wieckes dringenden Wunsch, zur Besprechung der Sache nach Dresden begeben.

Zuvor jedoch glaubte ich meiner Herzenspflicht in Eile genügen zu müssen: Ihnen fröhlich Feier- und Ferientage zu wünschen!

Ihr

Otto Borngräber.

Brief Metadaten

ID
6405
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Datierung
03.06.1900
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
14,0 x 22,0 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 6405
Zitiervorlage
Borngräber, Otto an Haeckel, Ernst; Halle; 03.06.1900; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_6405