Otto Borngräber an Ernst Haeckel, Stendal, 6. Mai 1900
Stendal, Jakobikirchhof 10, d. 6. Mai 1900
Hochgeehrter Herr Professor!
Endlich bin ich in der glücklichen Lage, Ihnen das fertige Werk übersenden zu können. Sie werden erkennen, wie ich bemüht war, die Beanstandungen der herzogl. Hoheiten in ihrem Sinne zu bessern und außerdem noch während des Druckes ganz erhebliche Besserungen des ästhetischen, dramatischen und theatralischen Teils einzuarbeiten.
Soweit es mir möglich wurde, bin ich auch den anderen Wünschen namentlich Ihrer Hoheit gerecht geworden, wie ich sie allenthalben zwischen den Zeilen las, ich meine rücksichtlich der Abmilderung des Antichristlichen.|| Doch konnte ich in diesem Punkt nur in der Kerkerscene etwas nachgeben, indem ich in der Gestalt des christlich-protestantischen Kerkermeisters eine christlich-weiblichem Gemüte sympathische Figur schuf. (Daß gerade der Kerkermeister dem freien Bruno gegenüber der Vertreter der düsteren Weltanschauung wird, ist symbolisch.) Indem nun aber die immer steigende Sympathie mit dieser Figur plötzlich, durch das letzte bittere Wort des Kerkermeisters, der sich zum Schlusse doch in seiner einseitig pietistischen Intoleranz zeigt, in Antipathie gegen ihn umschlagen muß, indem nun der weitherzige, versöhnliche Bruno ihm gegenüber noch viel herrlicher erstrahlt, indem er sich nun auch über die Einwände dieser urchristlichsten Figur erhebt, trotz derselben im darauf folgenden Monologe zur inneren Ruhe kommt, sich dann im Dialoge zur Freude, in der || letzten Scene zum völligen Triumphe durchringt: ist ja im Grunde Brunos Sieg über die christliche Weltauffassung noch viel deutlicher. Denn nun ist nicht nur der verderbte Katholizismus abgethan, sondern auch der Protestantismus, das Urchristentum in seiner reinsten und wirklich schönsten Gestalt. Ob ich also die Sache nicht verschlimmert habe … ? – Aber es ist doch durch die Anerkennung des großen Menschen Jesus in Brunos Munde eine gewisse versöhnlichere Stimmung äußerlich, wenn man will, wahrzunehmen, und ich hoffe, daß die Tragödie dadurch eher auf eine öffentliche Bühne kommt. Freilich, das tiefer blickende Auge wird nun eben einen noch tieferen Bruch wahrzunehmen glauben, aber das Publikum sieht ja bloß die Außenseite. – Ja, ich fürchte, daß ich der Theologie durch die Änderung die letzte Stütze, nicht nur formaliter, sondern auch materialiter nahm. Alle Theologie fußt auf der Anthropologie. Die „Schuld“ des || Menschen macht den Gott der Gnade nötig. Nun aber löst Bruno das sittliche Welträtsel anders: er erklärt die „Schuld“ als Schwäche, als letztes Überbleibsel des sich erst aus dem Tier entwickelnden Menschwesens, ein Überbleibsel, dasa nach Äonen verschwände. Es würde mich freuen, wenn ich bald Ihre Ansicht über den nunmehrigen 5. Akt wie das Ganze hörte. –
Aus den mir zugeschickten Correkturbogen ersehe ich, daß die Setzer einiges in der alten Orthographie des ursprgl. Vorworts stehen ließen. Es schadet wohl nichts. – Über den Aufführungsfortschritt ein andermal; ich reise am Sonntag nach Halle, Leipzig und Weimar. – Daß der Bruno-Bund mich trotz meines bescheidenen Schweigens auf die diesbez. Frage scheinbar ins Comité mitsetzte ehrt mich sehr; doch hoffe ich, daß der Bund keine politischen Tendenzen verfolgt – ich stehe zu Bismarck. Im übrigen thue ich alles, ihn zu vergrößern. Anbei das Buch als Drucksache. –
Es grüßt
Ihr
stets dankbarer
Otto Borngräber.
a irrtüml.: daß