Otto Borngräber an Ernst Haeckel, Halle, 23. März 1900

Halle a. S., Luckengassea 6, d. 23. März 1900

Hochgeehrter Herr Prof.!

Gestatten Sie mir eine kurze Anfrage, wie es gegenwärtig mit Ihrer Gesundheit steht. Ich fürchte fast, bei dem stürmischen Wetter nicht gut; aber ich hoffe, besser als mir. Ich bin nämlich seit mehreren Tagen Ihnen nachgefolgt und gleichfalls an Influenza erkrankt, werde mich wohl sogar nächstens nach Haus holen lassen müssen. Es kommt mir dies gerade jetzt überaus unbequem wegen der dringenden Rüstungen zu unserer Aufführung in Leipzig, zumal viele || der treibenden Organisationskräfte der Finkenschaft auch in den Ferien sind. Gleichwohl schreitet die Sache vorwärts, und gleichwohl habe ich noch soviel Kraft, um die dringlichsten Geschäfte zu erledigen. Zu diesen gehört u.a. eine nochmalige haargenaue Sichtung der stilistischen Laxheiten des „Bruno“ den ich aktweise an Pierer schicke. Ich glaube, daß die Tragödie nun auch vor der herzoglichen Kritik besteht – obwohl gewiß die Schärfe noch immer für Meiningen zu stark ist trotz meines partiellen Nachgebens, dem weiblichen Gemüt Ihrer Hoheit gegenüber.

Hinsichtlich Ihrer Empfehlung und Verlagsvermittlung spreche ich nochmals meinen tiefgefühlten Dank aus. Und doch fürchte ich fast, daß mir Herr Strauß trotz meiner freudigen Annahme seiner vortrefflichen Bedingungen etwas, || eine Kleinigkeit, übelnahm, da er mir nämlich noch nicht antwortete und mir den Vertrag noch nicht schickte. Doch liegt dies wohl an geschäftlicher Überbürdung, da ich ja auch vor 3 Tagen erst schrieb. – Ich bat Herrn Strauß nämlich, mir einige mehr als die 12 bewilligten Freiexemplare zu gewähren, da ich nämlich überzeugt davon bin, daß, falls das Werk reussieren solle, ich an mehrere Zeitungen und Kritiker Exemplare verschenken möchte. Obwohl ich kein Freund von Reklame sei, so müsse ein noch unbekannter Autor doch dafür Sorge tragen.* Oder ob es mir vielleicht Herr Strauß übelnahm, daß ich in dem bereits bei halber Krankheit aufgeregt gefertigten Briefe die Ungeschicklichkeit beging, ihn zu bitten, „er möge doch dem Werke, in Anbetracht dessen daß das Werk u.a. Ihrem Genius gewidmet sei und Sie || es (in verbesserter Gestalt) vielleicht den Hoheiten von Meiningen vorlegen würden, eine elegante Ausstattung zu teil werden lassen? zumal es in die Branche der Geschenklitteratur gehören werde“? Herr Strauß hält mit Recht das bei seinem Verlage für selbstverständlich. – Doch möchte ich Sie mit diesen hamletartigen Skrupeln nicht länger ermüden. Eine freudige Nachricht will ich Ihnen aber noch mitteilen. Vor einigen Tagen erhielt ich von Dr. Heinrich v. Schoeler, der die Tragödie in Leipzig kennen lernte (obwohl er den Autor kaum kennt,) sein sehr umfassendes Werk – ob es das bedeutendste ist, weiß ich bis jetzt nicht –: „Kritik der Erkenntniß, eine vorurtheilsfreie Weltanschauung“ mit der schönen Widmung: „Dem mutigen Streiter des freien Geistes“. Ist es nicht ein Beleg dafür, daß nicht nur die Tragödie, sondern auch ihre (neuerdings noch mehr herausgearbeitet) monistische Weltanschauung doch noch Freunde hat? – Mit herzlichen Wünschen für Ihre Genesung

Ihr Leidensgefährte

und dankergebener

Otto Borngräber

* Ich bin nunmehr entschlossen, auf die mir von Herrn Strauß bewilligte Tantième ganz zu verzichten und ihn zu bitten, daß er mir statt ihrer mehr Exemplare bewilligen möge u. es thut mir fast leid, daß ich ihn um eine Tantième bat.b

a irrtüml: Lukengasse; b Fußnote im Brief unten auf S. 3

Brief Metadaten

ID
6392
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
23.03.1900
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
14,0 x 22,1 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 6392
Zitiervorlage
Borngräber, Otto an Haeckel, Ernst; Halle; 23.03.1900; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_6392