Otto Borngräber an Ernst Haeckel, Halle, 6. Februar 1900

Halle, Wilhelmstr 10, d. 6. 2. 1900

Hochverehrter Herr Professor!

Der große Schritt, den Sie in hochherziger Weise nächster Tage für mich thun wollen, macht mich im tiefsten Innern freudig erzittern. Spür’ ich doch wohl, daß es sich vielleicht um meine ganze Laufbahn handelt. Denn das eine ist sicher: Die Brücke zur Theologie, lang’ innerlich morsch, ist durch den „Bruno“ auch äußerlich abgebrochen. Hinter mir liegt die Unendlichkeit. Aber auch – vor mir. Rechts und links gähnen die krassen Klüfte der Wirklichkeit, und wie ein gefesselter Prometheus, der den Menschen verwegen Licht bringen wollte, schwebe ich dazwischen. Vielleicht, hochverehrter Herr Professor, sind Sie berufen, der Herakles || zu sein, der nach so großen Heldenthaten der Befreiung auch einen armen Prometheus befreie, auf daß sein Licht die licht- und freiheitdurstigen Menschen erquicke.

Ich sehe mehr und mehr: Staegemann ist nicht der Mann für unser Unternehmen. Er ist der potenzierte Theaterdirektor im Faust. Aber so sind sie, glaub’ ich, alle. Diese Menschen haben absolut keine Wahrheits- und Kunstideale. Sie berechnen bloß immer das Risiko und die etwaigen Einnahmen. Fast waren neulich schon einige Herren gewillt, ihm Kaution zu stellen. – Der Leipziger Finkenschaftsgedanke eines großen Baireuth, das die Studenten durch Statisten stützten, scheitert gleichfalls am nervus rerum. – Heinrich Hart schreibt: „Jemand, der nicht mitten in der Berliner Theaterei steht, ahnt kaum, was es heißt, einer neuen Kraft die hiesigen Bühnen zu gewinnen, daß es unter den heutigen Verhältnissen beinahe aussichtslos erscheint, wenn das Neue nicht in den gewohnten Alltagsrubriken unterzubringen ist, sondern kühn und unverstanden seinen eigenen Weg geht.“ – Hauptmann hat genug zu thun, um sich neben Max Dreyer aufrecht zu erhalten und fürchtet jede neue Rivalität. – Harts stehen überdies mit den drei bedeutendsten || Direktoren auf Kriegsfuß. –

Sie allein, hochverehrter Herr Professor, steuern vielleicht auf den einzigen Rettungsport. Ein groß- und freigesinnter Fürst wie der kunstverständige Herzog Georg, in dem sicher noch viel von dem vornehmen Blute der klassischen Periode wallt, müßte und wird vielleicht die Sache protegieren. Gern wäre ich bereit zu jeder scenischen Änderung im Sinne der Meininger Bühne; nur die Conzeption muß bleiben. Bühne und Personal wird reichen; nur für Bruno müßte wohl ein großer Schauspieler, Kainz, Sommerstorff, Wiecke oder Weiser engagiert werden. Es bedürfte für diese Rolle eines sehr tief angelegten Mannes; denn Bruno ist die Seele, ohne sie bleibt das Stück tot, und mißlingt die Erstaufführung, so ist das Stück für immer tot. – Es ist das Urteil eines sehr tüchtigen Leipziger Fachmannes, eines Regisseurs, der die Tragödie am liebsten in Leipzig auch durchbrächte. – Schon längst übrigens wollte dieser Herr, ein Herr Burg, Ihnen sein fachmännisches Urteil zugehen lassen; ich habe mir erlaubt, ihn nun dazu zu ermächtigen, damit Sie auch seine Kritik etwa versenden könnten.

Aber alle Kritiken helfen nichts, auch alles Lesen hilft wenig, man muß sehen und hören, um die Wirkung zu ermessen. Nicht weiß ich, wie die Verhältnisse liegen, || aber vielleicht gestatten sie es, daß Sie mir die unendliche Gunst eines persönlichen Vortrags vor Seiner Hoheit und einigen Kunstverständigen erwirkten …? Geschähe dies, so weiß ich, daß ich die versammelte Gesellschaft hinrisse; ich weiß es aus Erfahrung. Aber die Hoffnung auf diese Gunst ist wohl zu groß und zu kühn, als daß sie mir gewährt werden dürfte. Vielleicht versuchen Sie es; jedenfalls wenn die tote Lektüre nicht die ideale Wirkung hätte; wie das ja nicht ausgeschlossen ist, wenn man mit der mangelhaften Handschrift, den vielen scenischen und leider hinzugefügtena wissenschaftlichen (Rand-)Bemerkungen zu kämpfen hat, und so stets das harmonische Gefühl gestört wird und die Gespanntheit gehemmt. Aber das fällt beim Vortrag fort.

Ein Ihnen innig ergebener, ein mühselig ringender, Kunst und Wahrheit suchender, vielleicht auch bringender, vielleicht hoffnungsvoller Jüngling hofft, daß es Ihnen, dem großen Meister, gelinge, einen edlen Gönner der Brunotragödie zu gewinnen, nicht allein zum eigenen langentbehrten Glück, sondern auch zu Ihrem Ruhm, zur vollen Würdigung und Popularisierung des herrlichen Giordano – und zum Sieg der Wahrheit!

Ich bin | Ihr | ewig dankbarer

Otto Borngräber

a eingef.: leider hinzugefügten

Brief Metadaten

ID
6380
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
06.02.1900
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
14,3 x 22, 3 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 6380
Zitiervorlage
Borngräber, Otto an Haeckel, Ernst; Halle; 06.02.1900; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_6380