Wilhelm Breitenbach an Ernst Haeckel, Odenkirchen, 24. Juli 1894
WILH. BREITENBACH
DR. PHIL.
ODENKIRCHEN, 24. Juli 1894
Sehr geehrter Herr Professor!
Gestatten Sie mir die ganz ergebene Anfrage, ob Sie vielleicht während der kommenden
Ferien mir Ihr „System der Medusen“ auf einige Wochen leihen können. Ich möchte eine
Anzahl Tafeln danach anfertigen, die ich diesen Winter zu Vorträgen zu gebrauchen gedenke.
Die Tiefsee-Medusen brauche ich nicht, da ich diese bereits durch Ihre große Güte hier hatte.
Gestern erhielt ich den Brief über die || Feier Ihres Geburtstages. Nach dem Bilde zu
urtheilen ist die Büste von Prof. Kopf vortrefflich. Werden von derselben keine Abgüße
erscheinen? Ich glaube, daß Mancher den Wunsch hat, einen solchen zu besitzen.
Der Director des hiesigen Lehrerseminars, Dr. Langen, ein Bruder des Bonner Professors
der Theologie, selbst von Haus aus kath. Geistlicher, aber außerordentlich freidenkend,
interessirt sich lebhaft für Ihren Monismus. Wir haben uns oft eingehend über denselben
unterhalten, wobei ich fand, daß die Anschauungen des || Dr. Langen den monistischen
oft recht nahe kamen. Ich habe es immer bedauert, daß der Mann den Priesterrock Roms
anhat, aus dem er nicht wieder heraus kann.
Seit 2–3 Monaten ist speziell hier in Odenkirchen eine neue evang. Secte in der Entstehung
begriffen. Ein junger Religionsschwärmer, ein aus dem Amt entlassener Geistlicher, hält jeden Abend religiöse Versammlungen ab, zu denen die Leute in hellen Schaaren von nah und fern herbeiströmen. Der verrückte Mensch will die Leute sündlos machen, verurtheilt mehr oder weniger das Arbeiten und donnert || infolgedessen gegen die Besitzenden, was den Fabrikarbeitern natürlich sehr gefällt. Die Sache hat für mich insofern Interesse, als ich die Entwicklung aus nächster Nähe beobachten kann.
Indem ich Sie, hochverehrter Herr Professor, um Berücksichtigung meiner Bitte ergebenst
ersuche, bleibe ich mit freundl. Gruß
Ihr hochachtungsvoll ergebenster dankbarer Schüler
Dr. W. Breitenbach