Richard Semon an Ernst Haeckel, München, 16. November 1917
HOHENZOLLERNSTR. 130
MÜNCHEN
16/XI 17.
Hochverehrter Herr Professor.
Vor einigen Tagen erhielt ich durch den Verleger in Ihrem Auftrag Ihr neustes Werk „Kritallseelen“ zugesandt. Obwohl ich das Studium dieser Arbeit, die so viel neues und anregendes enthält noch langea nicht beendet habe, drängt es mich doch, Ihnen schon heute für dies schöne Geschenk meinen wärmsten Dank auszusprechen, besonders aber auch dafür, dass Sie meiner Arbeiten in Ihrem Werke an verschiedenen Stellen mit so freundlicher Anerkennung gedacht haben. Das Problem, das Sie in Ihrem Buche in Angriff genommen haben ist ja das denkbar fundamentalste, dabei aber auch, weil es in fast alle Gebiete menschlichen Wissens übergreift, das schwierigste, das uns überhaupt entgegentritt. || Ich folge Ihren Ausführungen mit atemloser Spannung, freilich stellenweise nicht ohne Mühe, weil ich eben in Kristallographie, Mineralogie undb Mathematik vollständiger und in Physik und Chemie kaum „halbgebildeter“ Dilettant bin. Einen kleinen Beitrag auch zu manchen der von Ihnen behandelten Fragen hoffe ich in meiner nächsten Arbeit liefern zu können, die ich wahrscheinlich „Gehirnprozess und Bewusstseinsvorgang“ betiteln werde. Doch wird bis zu c ihrem Erscheinen wohl noch einige Zeit vergehen.
Ihren Sohn Walter und seine Familie haben wir seit längerer Zeit nicht gesehen. Jedes gesellige Zusammentreffen wird durch den Krieg sehr erschwert. Meine Frau leistet seit Kriegsbeginn tüchtig Kriegsarbeit im Wohlfahrtsausschuss unseres Bezirks, und die Folgen einer mehr als dreijährigen Anspannung beginnen sich bemerkbar || zu machen. Wir hoffen aber sehr, noch vor Weihnachten Ihre Kinder einmal zum Thee bei uns zu sehen, und dann wieder authentisches über Sie und Ihr Befinden zu erfahren. Frau Giltsch und ihr Sohn Eduard
schrieben uns neulich und teilten uns zu unserer grössten Freude mit, wie ausgezeichnet es Ihnen ginge. Ein beredteres Zeugniss für Ihr Wohlsein und Ihre Überwindung des Alters als Ihr letztes Werk kann es aber überhaupt nicht geben.
Ihnen für die Zukunft das beste wünschend mit den allerherzlichsten Grüssen von meiner Frau und von mir
Ihr treuer und dankbarer Schüler
Richard Semon.
a eingef.: lange; b eingef. und gestr.: höherer; c gestr.: I