Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Max Henning, Jena, 14. Oktober 1909

Jena, 14. Oktober 1909

Geehrter Herr!

Ihrer Aufforderung, mich über den gestern an Francisco Ferrer begangenen Justizmord zu äußern, entspreche ich gern, im Gefühl der tiefsten Empörung darüber, daß eine solche schamlose Schandtat noch im zwanzigsten Jahrhundert in einem europäischen Kulturstaat begangen werden darf. Das Verbrechen, das der spanische Vertreter der freien Wissenschaft mit seinem Leben büßen mußte, war nicht seine liberale politische Gesinnung (und noch weniger ein wirkliches politisches Verbrechen, für welches die falsche Anklage der spanischen Regierung nicht den Schatten eines Beweises beibringen konnte), sondern sein erfolgreicher, seit mehr als 20 Jahren geführter Kampf für Gedankenfreiheit und für rationelle Reform des Unterrichts.

Der katholische Klerus, der noch heute in Spanien allmächtig ist, haßt mit Recht in diesem idealen Vorkämpfer der modernen, naturwissenschaftlich begründeten Weltanschauung seinen gefährlichsten Gegner; sein eifriges Bestreben, die || Schule von den Fesseln der Kirche zu befreien und die Vernunft an die Stelle des mittelalterlichen Aberglaubens zu setzen, drohte die Gewaltherrschaft der Mönch-Regierung an der Wurzel zu untergraben; deshalb mußte der edle Ferrer um jeden Preis vernichtet werden.

Francisco Ferrer besaß in seinem erhabenen Idealismus, in seiner selbstlosen Aufopferung für Volksbildung und Sozial-Reform, in seinem reinen furchtlosen Charakter, viel Ähnlichkeit mit meinem verstorbenen Freunde und Kollegen Ernst Abbe, dessen unsterbliche Verdienste immer mehr anerkannt werden.

Der tiefste Abscheu der ganzen gebildeten und frei denkenden Kulturwelt wendet sich heute gegen den feigen Mörder, der den Thron Spaniens ziert. König Alfonso, ganz im Netze der Jesuiten befangen, hat von dem ihm zustehenden Begnadigungs-Rechte keinen Gebrauch gemacht und konnte nicht rasch genug das fluchwürdige Todes-Urteil vollziehen lassen. Wie aber heute schon in Rom das Standbild von Ferrers Schicksalsgenossen, dem edlen Giordano Bruno, auf dem Campo de’Fiori sich erhebt, zum beständigen Schrecken des Papstes im nahen Vatikan, so wird hoffentlich in nicht zu langer Frist auch ein Standbild von Francisco Ferrer, dem Märtyrer des freien Gedankens und der Volksbildung, den Platz vor dem Königsschlosse in Madrid zieren.

Ernst Haeckel.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
14.10.1909
Entstehungsort
Entstehungsland
Signatur
A 54968
ID
54968