Ernst Haeckel an Carl Gegenbaur, [Berlin, 18.] Dezember 1860

[18.] December 1860.

Lieber Gegenbaur.

Zunächst herzlichsten Dank für Ihren a letzten Brief, b und speciell noch für das Wohlwollen, mit dem Sie mein Interesse vertreten und c andrerseits für die Offenheit, mit der Sie in der hiesigen und Jenenser Angelegenheit mir die Sachlage dargelegt haben. Ich antworte Ihnen mit derselben Offenheit, und erwarte zugleich, daß Sie die im Folgenden ausgesprochene d Darstellung meines hiesigen Verhältnisses, und Aussichtene für ebenso wahrheitsgetreu und ohne alle Übertreibung ansehen, f wie ich dies von Ihrer Darstellung der Jenenser Verhältnisse glaube. Insbesondere betone ich von vornherein, daß ich Ihnen Keines der hiesigen g in Frage kommendenh Interessen verschweige und ich glaube daß Sie mich hinreichend kennen, um überzeugt sein [zu] können, daß ich die Lage, in diei ich mich gegenwärtig durch die doppelte Aussicht nach 2 Seiten versetzt sehe, nicht wie es wohl mancher Andre thun würde, benutzen werde, um || unberechtigte Forderungen nach einer oder der anderen Richtung geltend zu machen. Daß ich aber in dieser Angelegenheit nur schwierig und langsam zum definitiven Entschluß gelange, werden Sie damit entschuldigen, daß es sich mit dem jetzt zu thuenden Schritt sehr wahrscheinlich um die definitive Richtung für mein ganzes zukünftiges Leben handelt.

Der erste Eindruck Ihres Briefes war ein sehr freudiger, da ich in der That nicht gehofft hatte, daß meine Aussichten in Jena so günstig stünden. Meine j schon sehr zu Gunsten der hiesigen Stellung eingenommene Meinung wurde also wieder beträchtlich k für die Jenenser umgestimmt. Indeß beschloß ich doch, zunächst reiflich die beiderseitigen Vor- und Nachtheile abzuwägen ehe ich mich zu 1 definitiven Schritt entschlösse. ||

Gleichzeitig mit Ihrem Briefe erhielt ich eine Einladung von l August Müller ihn m am Montag (gestern) Abend zu besuchen und eine Parthie meiner Zeichnungen mitzubringen, da ich n die Prof. der Kunstakademie, die den Senat zusammen setzen, daselbst antreffen würde. Nebst diesen fand ich auch Du Bois dort. o Der Hauptpunkt dieser Conferenz war wohlp, q durch r Bekanntwerden s mit meiner Person und mit meinen künstlerischen Interessen und Leistungent die Prof. der Kunstakademie u für mich zu gewinnen. Zu meinem peinlichen Erstaunen schien aber dieser Zweck schon vorher (vermuthlich durch die Empfehlung Du Bois’, Muellers und Virchows) erreicht zu sein, da die Herren meine Annahme der hiesigen Stelle als abgemachte Sache ansahen. Ich wurde dadurch gezwungen, mich gegen Mueller und Du Bois über meine Interessen und Aussichten in Jena offenv auszusprechen und ihnen w auseinanderzusetzen, || warum ich noch keineswegs für die hiesige Stellung entschieden sei und im Gegentheil meine Neigung für Jena noch sehr überwiege. Mueller und Du Bois thaten nun beide ihr möglichstes, x mir die hiesigen Verhältnisse, namentlich dem kleinlichen Jena gegenüber, im y glänzendsten Lichte darzustellen und z mich für Annahme der hiesigen Stelle zu bearbeiten. Insbesondere hoben sie hervor, wie die Concurrenz mit Reichert in der vergleichenden Anatomie mir nur zum rühmlichsten Erfolge aa verhelfen würde. Reichert bb soll nämlich selbst die vergleichende Anatomie sehr schwach vortragen und da es[!] schon August Mueller in dem letzten Semester ihm über die Hälfte der Zuhörer abspenstig gemacht hat, würde es allerdings cc auch für mich wohldd leicht sein, ee diesen gewiß sehr anspornenden Wettlauf mit Glück fortzuführen. Auch würde Reichert selbst dann am eifrigsten bestrebt sein, den unbequemen Nebenbuhler durch Verschaffung einer anderen Professur möglichst bald aus Berlin zu entfernen. Ferner wurde ff || der Vortheil hervorgehoben, den ich hier durch Verbleib in der medicinischen Facultät erhielte, während ich in Jena wohl in die philosophische eintreten müßte. August Mueller und Du Bois versäumten Nichts, mich energisch für die hiesige Stelle zu bearbeiten. Indeß hat mich grade der Eifer, mit dem sie dies thaten, stutzig gemacht, und mir klar gemacht, daß auch Ihr eigenes Interesse dabei mit im Spiel ist. Wie ich nämlich schon früher vermuthete, ist kein anderer von Reichert unabhängiger Concurrent um die fragliche Stelle aufgetreten und wird sich wohl schwerlich erst nur ein solcher finden lassen. Es liegt also jetzt in der That im Interesse der Akademie daß ich meine Kandidatur durchsetze, um so mehr, als ich vielleicht vermöge eines artistischen Interesses mehr als mancher andere dafür geneigt bin.gg Wie ich Ihnen schon im vorigen Brief schrieb, hat sich hier Reichert durch seine Arroganz und seine despotische Willkür im höchsten Grade verhaßt gemacht und jetzt ist neulich auch Du Bois, welcher bisher noch durch die gemeinschaftliche Redaction des Archivs wenigstens dienstlich mit ihm verbunden war, entschieden mit ihm zerfallen. Nun hh bin ichii unter den jüngeren jj hiesigen Fachgenossenkk ll der einzige der von Reichert ganz unabhängig und als Werkzeug gegenmm denselben nn von der Antireichert Partei zu gewissen Zwecken zu gebrauchen ist. || Grade dieser Umstand aber macht mir wieder dieoo Verhältnisse sehr zuwider, da ich nicht im mindesten pp Lust habe, eine solcheqq Rolle in dem rr intriguanten Kampfe der hiesigen streitenden Partheien zu spielen. Ich verharrte ss trotz alles Drängenstt auf meinem Vorsatze, mich noch nicht definitiv für die hiesige Stelle zu entscheiden, sondern erst abzuwartten wie sich die Jenenser Frage gestaltet.

Nach nochmaliger Abwägung alles pro et contra –uu Nun also zu dieser! Meine alte Neigung, in Jena eine Docentenlaufbahn zu beginnen, ist vv noch immer dieselbe und viel subjectivere Hoffnung, die ich vielleicht mit etwas allzu sanguinisch aufgefaßten Gründen nähre, lassen mir diese unabhängige akademische Stellung namentlich an Ihrer und Bezolds Seite, als höchst erwünscht erscheinen. Dazu kommt jetzt noch mit verstärkter Intensität, der so eben zuletzt erwähnte Umstand, daß ich gern von dem widerwärtigen Parteikrache der hiesigen Gelehrten entfernt bleiben möchte. Meine Neigung trotz aller hiesigen günstigen Umstände doch noch nach Jena zu kommen, ist nun aber durch ihren letzten Briefww, der mir bald eine außerordentliche, unabbhängige Professur so baldxx in Aussicht stellt, natürlich nur noch sehr gestiegen und hätte ich auch ganz allein zu entscheiden, so wäre jetzt wohl schon der Absagebrief an die Akademie geschrieben. Nun kommt aber der Rath und Wille meines Vaters dazu, welcher die Jenenser Verhältnisse nichtyy mit demselben hoffnungsvollen Vertrauen wie ich betrachtet. || Nicht, daß er das mindeste Mißtrauen in Ihre Versicherungen setzte. Allein er meint, daß diese, da sie alles officiösen zz Gewichts entbehrten, aaa keine Garantie bieten würden, daß in der That diese Hoffnungen in Erfüllung gingen. Ich bbb habe zwar das vollkommene Vertrauen, daß Sie Ihre sehr willkommene und erfreuliche Zusage nicht ohne den Rückhalt einer officiösen Stütze abgegeben haben; allein mein Vater meint, daß ich, gestützt auf meine hiesigen Aussichten, wohl den Anspruch irgend einer officiellen Zusage von Seiten der Jenenser Facultät machen könnte. Was wir beide wünschen, ist nicht die sofortige Berufung als Professor extraordinarius. ccc || Diese kann ich selbst weder erwarten noch wünschen, da ich der medicinischen Facultät nichtddd zumuthen kann 1 Katze im Sack zu kaufen, und da ich erst den Beweis zu liefern wünsche, daß ich einer solchen Stellung in der That nichteee unwerth bin. Was wir wünschen, ist vielmehr fff irgend eine directe oder indirecte officielleggg Zusicherung, daß mir diese außerordentliche Professur hhh nach Verlauf einiger Zeit, etwa eines Semesters, für den Fall, daß ich meine Lehrpflicht in Jena in befriedigender Weise erfülle, gewißiii zu Theil werden wird. Können Sie durch Herrn Staatsrathjjj Seebeck bestimmen kkk Ihnen diese Zusicherung mündlich oder lieber schriftlich in irgend einer beliebigen Form zu geben, so bin ich entschieden und schreibe der Kunstakademie ab. lll Mein Vater wünscht doch || Garantie meiner eigenen Sicherheit halber, ich selbst aber deßhalb, weil ich diesen Weg als die einzige Möglichkeit ansehe, mich aus den hier bereits mmm eingegangenen Verhältnissen mit Ehren auszulösen. Wie ich Ihnen wohl schon schrieb, musste ich nnn behufs Erlangung der hiesigen Stelleooo ppp 2 schriftliche Bewerbungen um dieselbe einreichen, eine bei dem Senate der hiesigen Kunstakademie, die andre bei dem Minister der geistlichen Unterrichts und Medicinal Angelegenheiten. Beide wurden durch 1 sehr lebhaft empfehlendes schriftliches Zeugniß von Virchow dringend unterstützt.qqq Jetzt, wo mir das in denselben Bewerbungen verlangte bereits von dem Director und dem Senat der Akademie mündlich zugsichert ist und wo es bloß noch rrr des vor dem Senat zu haltenden freien Vortrags bedarf, um die Stelle sss factisch zu erhalten, ttt kann ich nicht das Verhältniß lösen || ohne einen stichhaltigen Grund dafür anzugeben, um so weniger, als in der That die Akademie durch meine Ablehnung aus dem oben erwähnten Grundeuuu in Verlegenheit versetzt wird. Auch würde ich der Kunstakademie gegenüber wohl einen seltsamen Eindruck machen, wenn ich meine so dringend befürwortete Bewerbung jetzt, nachdem vvv sie so gut, wie erfüllt ist, grundlos zurückziehen wollte. Ich möchte sie also bitten, und dies wird sich durch Erfüllung meines obigen Wunsches von selbst ergeben –www mir genau zu bestimmen, in welchen Ausdrücken ich diesen Grund abfassen soll. ||

Um nun die Sache nach allen Seiten möglichst unparteiisch untersuchen zu können, ging ich gestern Abend zu Virchow. Dieser redet mir nun ebenfalls dringend zu, die hiesige Stelle anzunehmen und xxx theilte mir zugleich mit, daß ihm der Director im Unterrichtsministerium Lehnert versprochen habe, mir auch eine yyy wieder zzz ins Leben zu rufende anatomische Lehrstelle an der Centralturnanstalt zu ertheilen. Diese würde mir auch noch ein paar 100 rℓ bringen und Virchow meint, ich würde daneben noch Zeit genug behalten vergleichende Anatomie fortzutreiben (was ich nicht glaube!).

Die meisten Andern würden in meinem Falle wahrscheinlich entschlossen sein, unter so günstigen Verhältnissen hier zu bleiben. aaaa Ich bin dagegen, je mehr ich das ganze Verhältnis kennen lerne immer abgeneigter geworden, auf dasselbe einzugehen und zwar aus folgendem Grunde. [Textabbruch]

a gestr.: zu letzt; b gestr.: auf den ich recht; c gestr.: für; d gestr.: Versichrung; e eingef.: und Aussichten; f gestr.: ich; g gestr.: pro et contra; h eingef.: in Frage kommenden; i korr. aus: der; j gestr.: schwankende Ansicht wurde also wu; k gestr.: zu Gunsten der hiesigen Stelle; l gestr.: Joh; m gestr.: zu; n gestr.: Du Boi; o gestr.: Dies Entresultat p korr. aus: dieser Conferenz, deren Hauptpunkt wohl war; q gestr.: mich persönlich dur; r gestr.: persönliches; s getr.: und durch; t eingef.: und Leistungen; u gestr.: zu; v eingef.: offen; w gestr. zu sagen, daß ich; x gestr.: im; y eingef.: namentlich dem kleinlichen Jena gegenüber; z gestr.: mich zu; aa gestr.: Erfolge; bb gestr.: liegt näml. d; cc gestr.: sehr; dd eingef.: auch für mich wohl; ee gestr.: erfolgreich; ff gestr.: betont; gg mit Einfügungszeichen eingef.: Wie ich nämlich … geeignet bin.; hh gestr.: ist; ii eingef.: bin ich; jj gestr.: kein; kk eingef.: hiesigen Fachgenossen ll gestr.: einziger; mm gestr.: zu; eingef.: gegen; nn gestr.: zu; oo korr. aus: diese; pp gestr.: Um; qq eingef.: solche; rr gestr.: hiesigen; ss gestr.: also; tt eingef.: trotz alles Drängens; uu eingef.: Nach … contra –; vv gestr.: durch ihren letzten; ww eingef.: noch immer…letzten Brief; xx eingef.: so bald; yy aufgelöstes Zeichen: nicht; zz gestr.: Chara; aaa gestr.: nicht; bbb gestr.: vertraue u; ccc gestr.: sondern irgend eine directe oder indirecte officielle Zusicherung, daß diese Professur mir für den Fall, daß ich meine Lehrpflicht dort in befriedigender Weise erfülle.; ddd aufgelöstes Zeichen: nicht; eee aufgelöstes Zeichen: nicht; fff gestr. die officie; ggg eingef.: officielle; hhh gestr.: in; iii eingef.: gewiß; jjj eingef.: Herrn Staatsrath; kkk gestr.: mündlich; lll gestr.: Ich; mmm gestr.: halb; nnn gestr.: bei; ooo eingef.: behufs Erlangung der hiesigen Stelle; ppp gestr.: meine hiesige Bewerbung zu; qqq eingef.: Beide wurden durch … dringend unterstützt.; rrr gestr.: den von; sss gestr.: zu; ttt gestr.: und wo; uuu eingef.: aus dem … Grunde; vvv gestr.: ich; www eingef.: und dies wird … ergeben –; xxx gestr.: suchte; yyy gestr.: neu; zzz gestr.: zu; aaaa gestr.: auf mich

Brief Metadaten

ID
53004
Gattung
Briefentwurf
Empfänger
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Königreich Preußen
Datierung
18.12.1860
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
11
Umfang Blätter
6
Format
15,2 x 22,3 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 53004
Zitiervorlage
Haeckel, Ernst an Gegenbaur, Carl; Berlin; 18.12.1860; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_53004