Ernst Haeckel an Wilhelm Engelmann, Jena, 30. Juli 1863

Jena 30 Juli 1863

Lieber Engelmann!

Das freundliche Telegramm der abwesenden Bürgerschule ereilte die versammelte, aber leider unvollständige „Soirée scandaleuse“ in einem höchst tragischen und ergreifenden Momente, als sie nämlich, – just von der „Caccia Boccia“ zurückgekehrt, die Pforten des Palazzo Haeckel vor dem ausgegangenen Mädchen verschlossen fand und nun, furchtbar hungrig, in höchst malerischer Gruppirung auf dem Vorsaal an der Treppe sitzend, liegend, stehend und hängend auf die Rückkunft der Donna servante vom Felsenkeller sehnsüchtigst erwartete, wobei der Rostbrätchen-Appetit auf eine furchtbare, nie geahnte Höhe stieg. Tantalus-Qualen durchwühlten die von Rostbrätchen-Hunger und Boccia-Müdigkeit gleichzeitig angegriffenen Mägen – endlich, nach halbstündigem Harren – es knarrt die Hausthüre, – weiche Tritte schleifen die Treppe hinauf – es erscheint – nicht die sehnlichst erwartete Rostbrätchen-Hebe vom Felsenkeller – nein! das Telegramm der schmerzlich vermißten Bürgerschule – unter solchen Umständen vielleicht eher geeignet, den Seelenschmerz zu steigern, als ihn zu mildern. Naumann war durch das ihm gewidmete donnernde Hoch aufs tiefste ergriffen und hielt eine steinerweichende Festrede; sämmtliche Anwesende aber waren so gerührt, daß beschlossen wurde, das Telegramm sofort würdig zu erwidern. ||

Dieser edle Vorsatz mußte nun freilich frommer Wunsch bleiben, da bekanntlich in Jena der rasende Telegraphen-Verkehr die betreffenden Beamten so furchtbar angreift, daß sie Nachts nothwendig schlafen müssen und daher von 8 Uhr ab keine Telegramme mehr expediren können! Indeß wurde nichts desto weniger der Abwesenden aufs Getreuste gedacht, unter denen sich leider außer der „Schlange“ auch ihr Schwager „Paßolt“ befand. Dieser kam nämlich, wie gewöhnlich viel zu spät, als die andere Gesellschaft längst in der Schlucht zwischen Felsenkeller und Geh. Hofrath Fischers Villa mit den kühnsten parabolischen Boccia-Würfen beschäftigt war. Leider verfehlte er den rechten Weg dahin, so daß er leider die unvergleichliche pikante Feinheit der 6 schweinernen und 10 rindernen Rostbrätchen nicht würdigen konnte, die heut Abend in dem ihnen [!] wohlbekannten „Ballettsaal der Primaa Donna Piper“ servirt wurden! Denken Sie, dieser Fortschritt in der Verfeinerung Soirées scandaleuses! Gegenwärtig bewegt sie sich in den verschiedensten ihrer bekannten Beschäftigungen: Piper als Orpheus säuselt den „Baccio“, Naumann entfaltet seine Beredsamkeit im Schachspiel „Dorn“ gegenüber, Haeckel tanzt d. Tarantella etc etc etc

– Was nun unsere Leipziger Turnfahrt betrifft, edelster Hosper! so denken wir nächsten Sonnabend um 12 Uhr alle zusammen von hier abzufahren und um 3 Uhr mit dem Extrazug der Turner nach Leipzig zu dampfen! Wann wir allerdings die berühmte Seestadt unter so außerordentlichen Umständen erreichen werden, ist völlig problematisch und läßt sich kaum annähernd berechnen. Doch hoffe ich, zwischen 5 Uhr abends und nächsten Morgen 5 Uhr frühe. ||

Den verehrten Ihrigen die herzlichsten Grüße!

Auf alpines Wiedersehen

Ihr treuer Haeckelb

Meine kleine Frau läßt noch bestens grüßen; sie freut sich unendlich auf das Senhüttenleben in Leipzig!c ||

„Dulce est designere in loco!“

Also gedichtet

in der unwiderruflich letzten

Soirée scandaleuse

von den berufenen Minnesingern.

42 Jahr Hermann Allmers Vogt und Deichgeschworner zu Rechtenfleth

Verfasser des „Marschenbuch“ etc. etc.

30 Jahr} Carl Fischer [Xxx]

} Naumann Verfasser einiger bedeutender Impressionen

29 Jahr Ernst Heinrich Haeckel

Verfasser des Flußkrebs-Ragoutsd

27 Jahr Anna Haeckel, Verfasserin oben genannter Kirschspeise

23 Jahr Oscar Adalbert Bieber, Verfasser des Mittagsophaeckplatzes im schwarzen Bären.

22 Jahr Felix Anton Dohrn. Verfasser mehrerer runjenierter Karnickel. ||

Jena, den 20st Juli

im Jahre des Heils 1863.

a eingef.: Prima; b Text weiter am rechten Rand von Seite 1, quer zur Schreibrichtung: Den … Haeckel; c Text weiter am oberen Rand von S.1: Meine … Leipzig!; d korr. aus: Ragouts; e gestr.: an

Brief Metadaten

ID
52505
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach
Datierung
30.07.1863
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Besitzende Institution
Staatsbibliothek Berlin PK
Signatur
Slg. Darmstaedter, Lc 1875: Haeckel, Ernst
Zitiervorlage
Haeckel, Ernst an Engelmann, Theodor Wilhelm; Jena; 30.07.1863; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_52505