Ernst Haeckel an Anna Sethe, Messina, 31. Dezember 1859

Messina 31.12.59.

Das wären also die letzten Zeilen in diesem bösen, bittern langen und doch für uns beide so unendlich wichtigen, fruchtbaren und segensreichen Jahre 1859, welchem wir Beide trotz des vielen Leides, das die lange bittere Trennung uns gebracht hat, doch recht dankbar sein wollen für das noch viel größere Gute, was wir Beide daraus geschöpft haben und für unser ganzes Lebe schöpfen werden. Heut am Sylvesterabend haben wir gewiß doppelt Ursache uns dies recht lebendig klar zu machen und voll Muth, Zuversicht und Hoffnung in das neue Jahr hineinzuleben, das vielleicht uns unseren schönsten Hoffnungen sehr nahe bringen und jedenfalls die Vorfreuden derselben verwirklichen wird. Wie anders sehen wir heut der Zukunft entgegen, als vorm Jahr, wo all das Schwere uns noch bevorstand, was jetzt größtentheils überwunden ist. Weißt Du noch, wie ich nach dem Aufbau bei Tante Bertha noch mit zu euch herüberging und wir das neue Jahr allein, auf Deinem kleinen Sophachen in unserm trauten Zimmerchen zusammensitzend verredeten. So glücklich wir mit einander waren, so überwog doch die Bangigkeit das traurige und das ungewisse zaghafte Gefühl einer dunklen Zukunft entgegenzugehen, die uns vielleicht eben so viel, oder noch mehr, Schlimmes, als Gutes bringen konnte. Alle diese unnützen Befürchtungen, die mich wohl noch mehr, als Dich, liebste Änni, drückten, sind nun durch die Vergangenheit zerstreut und wir beide eilen mit raschen Schritten der seligsten Zukunft entgegen. Schatzchen, wie reizend hast Du diese Gedanken, die mich beständig bewegen, in Deinem herzigen Neujahrsgruß ausgesprochen, der mir so unendlich viel Freude gemacht hat, daß ich ihn, ebenso wie das allerliebste Weihnachtsliedchen, den ganzen Tag während meiner microscopischen Arbeiten vor mich her summe. So ein paar Verse sind mir sogar schon ein paar mal, halb in Gedanken, bei Tische (wo ich jetzt schon seit 1 Monat mit dem Dr. allein esse) entfahren, so daß mich der Dr. ganz verwundert ansah und meinte, ich sei recht wieder viel geistesabwesend, wie mir das leider nur zu oft geschiet. Das Neujahrsgedichten hat mir aber || noch ganz besondere Freude dadurch gemacht, daß ganz dieselben Gedanken, ja sogar ein paar gleiche Reime, darin enthalten sind, wie in meinem Neujahrsgruß, den Du hoffentlich richtig am Neujahr (falls nicht der Sturm die Ankunft des Vapore wieder verspätet hat, wie leider zu Weihnachten) erhalten haben wirst. Freilich haben meine schlechten leichten Verse nicht die zierliche Kunstform der Deinigen, aber sie kommen doch aus eben so innigem und treuem Herzen und bringen Dir dieselbe Liebe mit. Die Festtage, in denen natürlich die Trennung wieder besonders schwer fiel, sind nun noch glücklich hinter uns.

Abgesehen von dem netten Heiliga Abend bei Sarauws, wurde mir auch gar nicht festlich zu Muthe, woran zugleich auch das gar nicht winterliche Aussehen der Landschaft mit Schuld sein mag. Schade, daß meine Sylvester-Arbeit, mit der ich Dich zum Fest zu überraschen gedachte, nicht grade zu Weihnachten angekommen ist. Schreib mir doch, ob eine oder 2 Tafeln sind, und ob sie in Farbendruck ausgeführt oder colorirt sind.

– N.B. Was sagst Du denn zu der Photographie des sonderbaren Thiers, den Dir der deutsche Naturforscher geschickt hat? – Ich denke, Karl wird Dich grad Heilig Abend damit überrascht haben. Ein paar Abende bin ich diese Woche aus gewesen, viel bei Sarauws, viel bei Peters, viel bei Klostermanns. Außerdem sollte ich sogar einen Abend tanzen, was ich selbstverständlich ausgeschlagen habe. Zwar wurde ich sehr gebeten zu erscheinen, indem die Leute meinten, wer so gut laufen und klettern könne, kann gewiß auch gut springen und tanzen! Doch blieb ich natürlich standhaft bei meiner Weigerung, ich finde das wirklich eine sonderbare Zumuthung, ohne meine süße Braut zum Tanz zu gehen. Schon allein die Erinnerung an den köstlichen Abend, wo die Eltern mir kurz nach meiner Promotion einen Ball gaben, und ich mit einer gewissen kleinen Cousine, die als Hauptperson figurirte, den Cotillon tanzte, würde mich jedesmal abhalten, wieder mit einem andern Mädchen zu tanzen. Meiner Änni allein gehören meine Arme und Hände und Niemand anderem! – Schreib mir doch, ob Ferdinand Richthofen noch in Berlin ist und ob er noch so lange bleibt, daß ihn ein im nächsten Brief eingelegter Zettel trifft. Grüßt ihn aufs herzlichste, den lieben Jungen. Den innigsten Kuß und die alte Liebe im neuen Jahr von Deinem treuen Erni.

[Beilage]

Sylvester-Traum in Messina.

1859/60.

1. Laß Liebchen, Dir erzählen

Was in der Sylvesternacht

Der gütige Traumgott uns Beiden

für ein herrlich Geschenk hat gebracht.

2. O möchte das kommende Jahr doch

schon dessen Verwirklichung sehn;

Man sagt ja, daß Neujahrsträume

gar bald in Erfüllung gehn!

Ich stand an meinem Fenster,

wo so oft ich Abends steh,

und ließ die Blicke schweifen,

nach Norden, weit über die See.

4. Weit draußen am Faro verfolgt ich

Der Leuchtthürme wechselndes Licht

Und lauschte der plätschernden Welle

Die an den Schiffen sich bricht;

5. Der flatternden Segel Rauschen,

Der Masten dumpfem Gedröhn,

Der schwankenden Taue Knarren,

Der Raaen tiefem Gestöhn.

6. Durch die Wimpel fuhr brausend der Südwind

Von Afrikas Strande mit Macht.

Kein andrer Laut mehr stört

Die Stille der einsamen Nacht.

7. Da traf ein fremdes Sausen

plötzlich das lauschende Ohr

Zum hohen Fenster schwang sich

Ein Vögelflug empor.

8. Sieh, Meven, Sturmvögel und Taucher

Die Schwimmer voll kühnem Muth

Die alle Morgen tauchen

Mit mir um die Wett’ in die Fluth.

9. Sie sprachen: „Glückauf, Du Lieber,

Du Freund der Natur und Kunst,

Heut sollen wir Dir erweisen

Eine ganz besondere Gunst.

10. „Du wünschtest so oft zu fliegen:

Heut ist Dir der Wunsch gewährt

Wir bringen des Albatros Kleid Dir,

Das das Meer Dir gütig bescheert.“

11. Noch eh’ ich vom Staunen erholt mich,

Umhüllt mich das Federkleid,

Sie banden mir fest an die Schultern

Die mächtigen Flügel breit.

12. „Nun schwinge Dich kühn vom Fenster

Und folge getrost unserm Zug

Du kannst ja so schwimmen und tauchen,

Versuche Dich nun auch im Flug.

13. „Frisch auf! Es geht nach Norden,

Wohin Du so oft gewandt

den Blick und Schritt voll Sehnsucht,

Wo Dein Geist ist festgebannt!

14. „Nach dem frischen, duftigen Norden

Deinem Deutschland, Hoffnungsgrün,

Wo in Deutscher Liebe und Treue

Dir die schönsten Blumen blühn!“

15. Ich warf in mein einsames Stübchen

Noch einen letzten Blick

Und dacht’ in meinem Sinne

„Wohl kehr’ ich nie mehr zurück!“

16. Ich ließ Mikroskope und Gläser

Und alle die Thierchen gehn,

Die, aus Messinas Hafen

gefangen, mich dort umstehn. ||

17. Nicht hielt mich zurück der Quallen,

Der Siphonophoren Glanz,

Über jenem einzgen Gedanken

Vergaß ich sie alle ganz.

18. Vergebens riefen die Salpen

Der Seesterne prächtiges Heer!

Die zierlichen Rhizopoden

selbst fesselten mich nicht mehr.

19. Vergebens seufzten sie traurig:

„Was ist unserm Herrn geschehn?

Wie mag’ er die Lieblinge alle

Auf einmal nicht mehr sehen?“

20. Ich aber überhörte

Ihr trauriges Abschiedswort.

Nach Norden, mein Junge, nach Deutschland!

Dies Einzige nur tönte fort.

21. Vorbei der sicilischen Küste!

Vorbei der Calabrischen Höhn!

Vorbei der Charybdis Brausen

Und der Scylla dumpfem Gestöhn!

22. Mit den Sturmvögeln um die Wette

flog ich nach Norden hin,

Wo in Ketten liegt und Banden

Unlösbar all mein Sinn!

23. Bald hatte ich weit im Rücken

Des Mittelmeeres Fluth

Und hatte rasch vergessen

Des Südens fesselnde Gluth!

24. Willkommen, geliebte Alpen!

Ihr blauen, eisigen Höhn,

Mit euren Gletschern und Matten,

Mit den Alpenblumen schön!

25. Ihr lieben, trauten Berge

Ihr, aller Treue Huth!

Ja, euch, und nicht dem Süden

Gehört mein deutsches Bluth!

26. Doch weiter trieb die Sehnsucht

Und weiter mich nach Nord,

Ich schwang mich über die Alpen

Mit kühnem Sprunge fort.

27. Nun bin ich in der Ebne

der lieben norddeutschen Gaun:

Willkommen, ihr stolzen Wälder!

Ihr weiten blühenden Aun!

28. O, seid mir all gegrüßet

viel innig tausendmal,

Wie hab ich auch tief entbehret

in der langen Trennung Qual!

29. Doch mehr als die deutsche Ebne,

als Berge, Blumen und Wald,

hat bald mein Herz beglücket

Eine deutsche Mädchengestalt.

30. Denn in der trauten Heimath

da fand ich das süßeste Lieb

das während der langen Trennung

Mir treu und hold verblieb. ||

31. Fand den immer grünen Epheu

Am alten bekannten Ort,

Der die junge hochstrebende Eiche

Umrankte fort und fort.

32. Du saßest an Deinem Fenster,

Ich nahm Dich auf meinen Schooß,

Des Wiedersehens Freude

Gewährt uns das seeligste Loos.

33. Du weintest Freudenthränen

An der treuen deutschen Brust,

Ich küßte sie Dir von den Wangen

Des herrlichsten Glückes bewußt.

34. Wie funkelten da die Feuer,

Wie schön der Mond so rein

Zum Paradiese wurde

Dein Stübchen, so traut und klein.

35. Ich hatt Dir so viel zu erzählen,

Zu zeigen so manches Blatt,

Du wurdest des frohsten Erstaunens,

Des Bewunderns und Fragens nicht satt.

36. Wir malten die seligste Zukunft

Uns aus so glücklich und schön,

Und eben, indem es gedacht war,

War das größte Glück schon geschehn.

37. Denn mitten im frohsten Entzücken

Überrascht uns der glücklichste Brief:

Indem den Herrn Doctor Haeckel

Als Professor nach Jena man rief.

38. Da sproßte der köstliche Frühling

Dem glücklichen Paare empor,

Es umfing sie mit frischestem Schmucke

Bald Thüringens Wälderflor.

39. Bald rauschten den Hochzeitreigen

Ihm die Schwarza-Wellen blank

Die stolzen Wipfel neigten

Die Edeltannen schlank.

40. Die Hirsche und Rehe sprangen

Zum herzlichsten Glückwunsch vor

Glückwünschend sogar kam gekrochen

Der Landsalamander Chor.

41. Nicht fehlten die Krebse und Käfer

Und der Schmetterlinge Schaar,

Die Forelle, die muntere Eidechs,

Die stets mein Liebling war.

42. Die Drossel und der Buchfink

Rothkehlchen und Nachtigall,

Sie ließen erklingen die Wälder

Vom aller lustigsten Schall.

43. Aus allen Klassen die Thierchen

nahmen Theil an meinem Glück

Und hinter der gütigen Fauna

Blieb Flora nicht zurück.

44. Zwar zürnte sie etwas der Änni,

Die des Erni Herz ihr entwandt,

Sie hatte so oft ja empfangen

Von ihm sein Herz, seine Hand.

45. Doch bald vergaß sie des Neides

In des Lieblings Glücke ganz,

Und flocht zum Hochzeitfeste

Für die Braut den schönsten Kranz.

46. Die lieben Blumen alle,

Die der Erni als Knabe gepflückt,

Hatten altbekannte Berge

Ihm zu diesem Feste geschickt.

47. Von Naumburg kamen Gentianen

Von Freiburg Orchideen,

Vom Schneekopf Anemonen

Von Coburg Saxifrageen.

48. Schneeglöckchen schickte die Bienitz,

Und Veilchen Liebenau hin

Adonisröschen Bornstädt

Der Inselsberg Wintergrün. ||

49. Von Merseburg die Gräser,

Die Farrne vom Annathal,

Von Ziegenrück die Moose –

So kamen die Lieblinge all!

50. Mit diesem Kranze ziert ich

Das Haupt der lieblichsten Braut,

Wohl niemals hatte mein Auge,

Ein zaubrischer Bild geschaut!

51. Wie pries ich mich da so selig

In Deinem Besitze ganz;

Nicht neidete ich die Götter

Um ihren olympischen Glanz.

52. Ich wollte Dich innig küssen

Auf die süßen Lippen mild,

Da wie ein stygischer Schatten,

Zerfloß das Nebelbild.

53. Da war mit Eins zerronnen

Wie lockern Glückes Schaum

Zu meinem bittersten Leide

Der allzu herrliche Traum.

54. Vergeblich breitet die Arme

Ich sehnend nach Dir aus

Vergeblich erscholl meine Stimme

In alle Lüfte hinaus.

55. Wild sprang ich empor aus dem Bette

Und rieb aus den Augen den Schlaf,

Da erst gewahrt ich die Täuschung,

Die mich so bitter betraf.

56. Schon lag auf Calabriens Bergen

Des Morgenrothes Schein

Bald schien in mein kleines Stübchen

Die Neujahrssonne hinein.

57. Nun wehe euch zarten Thierchen

Des Meeres allesammt

Zum Tode seid ihr alle

Durchs Microscop verdammt!

58. Nicht schützen euch eure Waffen.

Des schmucken Panzers Glanz

Nicht eure Nesselorgane,

Nicht der Kieselstacheln Kranz.

59. Doch kann ich zum Trost euch melden

Für dieses irdische Leid:

Euch verherrlicht in Kupfertafeln

Papierne Unsterblichkeit!

60. Und ist erst dieses große

Naturforscher-Werk geschehn,

Dann wird der herrliche Traum auch

Gewiß in Erfüllung gehn!

a eingef.: Heilig

Brief Metadaten

ID
52205
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Italien
Entstehungsland zeitgenössisch
Italien
Zielort
Zielland
Deutschland
Datierung
31.12.1859
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
8
Umfang Blätter
4
Format
14,1 x 22,2 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 52205
Beilagen
Sylvester Traum in Messina 1859/60
Zitiervorlage
Haeckel, Ernst an Sethe, Anna; Messina; 31.12.1859; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_52205