René-Édouard Claparède an Ernst Haeckel, Genf, 19.06.1858

Genf den 19ten Juni 58.

Liebster Freund!

Ich entsetzte mich selbst über meine unerhörte Nachlässigkeit, und weiß wahrhaftig nicht wie ich wegen des langen Stillschweigens um Entschuldigung bitten soll. Beinahe 10 Monate sind schon verflossen seitdem ich Berlin, Dich und Deine liebe Familie verließ und noch kein einziges Mal rührte sich meine Feder um die Gewissensbisse zur Ruhe zu bringen. Deine lieben Eltern hatten so viel Gutes an mir geübt daß sie wohl einige Zeichen des innigsten Dankes hätten von mir erwarten dürfen, und trotzdem habe ich so lange gezögert, daß ich mich nicht beklagen kann, wenn sie zum Schlusse gekommen sind, ich sei wiederum ein Beweis, daß Undankbarkeit überall auf Erden haust. Indessen je mehr ich geschwiegen habe, um so a öfter habe ich an Euch gedacht, und mir mit der Hoffnung geschmeichelt ich würde Dich und die Deinigen in nicht zu langer Ferne wiedersehen und das Versäumteb nachholen. Glücklicherweise scheint sich diese Hoffnung zum Theil zu verwirklichen, da ich aus Deinem letzten, so lange unbeantwortet gebliebenen Briefe ersehec, daß Du mit der || Absicht umgehst eine kleine Schweizerreise noch in diesem Jahre zu unternehmen. Die Idee kann ich nur loben. Wenn Einer sich bis zum praktischen Arzte hinaufgeschwindelt hat – und das ist Deinerseits gewiß geschehen – so ist es wohl wünschenswerth, daß er sich mitunter den Naturschönheiten etwas nähert, sonst würde er in seiner hippokratischen Anschauungsweise vollständig versteinern, und das irdische Daseyn nur noch als im Dekokt, oder im Infusum, oder gar eine Latwerge von Lüge und Betrug betrachten. Obgleich Du durch diesen praktisch ärztlichen Anstrich keine neuen Vorzüge erworben hast, und wenn schon durch denselben eine geistige Verschlimmerung eingetreten sein mag, d dennoch wirst Du heutzutage wie früher eine Persona grata oder gar gratissima bei mir sein. Übrigens kann ich Dir zur Beruhigung mittheilen, daß ich selbst Mitglied der hiesigen ärztlichen Gesellschaft geworden bin, und daß ich von meinem Spiegel noch e immer kein erröthendes Bild zurückgestrahlt bekomme. Ich stelle zwar in diesem Vereine den dunklen Schatten, die Kehrseite, die physiologische Geißel, den spottenden Sohn derf grimmigen Frau Themis, den Schweigenden und den Beißenden zugleich vor, und das mag mir zur Entschuldigung dienen. Cicero sagt er habe niemals begreifen können wie zwei Haruspices einander betrachten konnteng, ohne dabei aufzulachen. Da wir indessen keiner priesterlichen Würde bedürfen, so wird uns unsere Aufgabe leichter werden, und Cicero würde || an unserer Freude beim Wiedersehen auch die seinige haben. Ich habe also einen hübschen Plan ersonnen, welcher hoffentlich auch Deine Zustimmung erhalten dürfte. Die jährliche Versammlung der schweizerischen Naturforscher findet heuer in unserer Bundesstadt statt, und zwar am 2ten, 3ten und 4ten August. Ich beabsichtige hinzufahren, und das wäre prächtig wenn wir dort zusammentreffen könnten. Carl Vogt kommt auch hin und aus Deutschland wandern auch gewiß Viele dahin. Wir würden also einige herrlichen Tage beim wissenschaftlichen Bummeln an der Aar verleben, und darauf könnten wir, wenn es Dir genehm ist über das Simmenthal und die Walliser Alpen nach dem Bad Lavey um dort meinen Schwestern einen kleinen Besuch abzustatten. Das Weitere wird Dir dann anheimgestellt, bis Du endlich einige Zeit in Genf und zwar nicht im Hȏtel de la Balance, – sonst will ich nimmermehr von Dir hören, – sondern auf unserem Landsitze ruhig zubringen. Wenn Du entweder Deinen Vater oder Deinen Bruder mitbringen könntest, so wäre es noch unendlich schöner. Daß Deine liebe Mutter die Reise unternimmt darf ich kaum hoffen. Falls Keiner von den Deinigen Dich begleiten kann, so wandere einsam mit einem Prügelstock zu Freund Paalzow und bringe ihn gewaltig mit. Gewalt mußt Du jedenfalls anwenden, denn ohne Staatsstreich ist er nicht aus der Kammer herauszureißen. Jedenfalls wirst Du allein oder mit Begleitung sehnlichst erwartet. ||

Ich bin so weit gekommen und habe noch kein Wort von diesem unerwarteten und schrecklichen Ereigniß gesprochen das mir eine Zeit lang beinahe jeden wissenschaftlichen Muth benahm. Ich habe, wie Du es Dir schon denkst, Müller’s Tod im Sinn. Gewiß hätte mich das Dahinscheiden des eigenen Vaters nicht härter getroffen als diese plötzliche, unerwartete Todesstunde. Die tiefe Trauer gilt dem wahren Freund und dem geneigten Lehrer zugleich. Immer war er bereit mir mit Rath und That beizustehen, und dieser Verlust ist für mich nicht zu verschmerzen. In der Entfernung von jedem wissenschaftlichen Centrum setzte ich mein ganzes Vertrauen auf Müller’s Wohlwollen. Sobald ich eines Rathes, einer Erklärung, einer wissenschaftlichen Unterstützung bedurfte, dann brauchte ich nur mich zu ihm zu wenden um Alles zu finden was ich verlangte. Solche Betrachtungen sind indessen, dem allgemeinen Verlust der wissenschaftlichen Welt gegenüber, allzu selbstsüchtig. Für Berlin insbesondere ist diese Lücke nicht zu erfüllen. Hier nennt man bald Helmholtz, bald Brücke und Kölliker als Nachfolger des großen Forschers. Ich denke immer, daß zwei Männer nothwendig gewählt werden müssen, und die beiden zugleich werden dennoch, h Müller gegenüber, nur eine einseitige Richtung der Wissenschaft vertreten.

Meinei herzlichsten Grüße an Deine lieben Eltern und Deinen geschätzten Bruder. Hermann von Chamisso, muß schlecht von mir denken, indessen, will ich auch an ihn baldj schreiben. Grüße mir la Valette, Martens, Weiss, Hartmann, Passow’s, Ehrenberg k Schaum und Frau und Alle.

Dein treuer Ed. Claparède

Beiliegenden Brief wirst Du wohl so gut sein an Paalzow zu bringen, dessen Adresse mir unbekannt ist.l

a gestr.: mehr; b korr. aus: versäumte; c korr. aus: erfahre; d gestr.: s; e gestr.: kei; f korr. aus: von; g korr. aus: könnten; h gestr.: nur; i korr. aus: Nu; j korr. aus: bad; k gestr.: u A; l Text weiter am linken Rand von S. 1: Beiliegenden … unbekannt ist.

Brief Metadaten

ID
5087
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Schweiz
Entstehungsland zeitgenössisch
Schweiz
Datierung
19.06.1858
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
13,2 x 21,4 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 5087
Zitiervorlage
Claparède, René-Edouard an Haeckel, Ernst; Genf; 19.06.1858; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_5087