Hans Christiansen an Ernst Haeckel, Wiesbaden, 19. März 1917

PROFESSOR

HANS CHRISTIANSEN

WIESBADEN

den 19.3.1917.

Hochgeschätzter Meister!

Ihre kraftvollen Worte und Ihre klare Schrift in der gestern erhaltenen Karte beweisen mir, dass Sie trotz Ihres grossen Alters noch fest im Leben, d. h. im Kampfe stehen. Mögen Ihnen nun noch recht viele gesunde Jahre zu siegreichen Daseinskämpfen beschieden sein!

Sie wissen, dass meine Bewunderung Ihres Lebenswerkes keine ungeteilte ist. Ihre Entdeckung des biogenetischen Grundgesetzes hätte von allen Ihren übrigen wohl alleine genügt, Sie unsterblich zu machen; persönlich verdanke ich dieser Entdeckung und damit Ihnen sehr viel für die Klärung meiner eigenen Weltanschauung. Gerade von dieser aus muss ich jedoch Ihren Monismus, soweit Sie ihn als Gegensatz zum Dualismus betrachten, ablehnen. Ich verwerfe den Dualismus von „Geist und Körper“, weil Geist nur ein psychischer Begriff ist, Körper aber deren zwei grundverschiedene physische enthält, nämlich den quantitativen Begriff der Energie, Kraft, und den quantitativen der Materie, Stoff, denen beiden notgedrungen auch qualitativer Begriff der Energie, Geist, und ein qualitativer der Materie, Seele, als zwei grundverschiedene psychische Begriffe gegenüberstehen müssen. Den Dualismus als solchen verwerfe ich also nicht, im Gegenteil! Alles Sein beruht meiner Ansicht nach auf einem Dualismus im Kosmos, d. h. auf einen Satz und seinen Gegensatz: Kein Absolutes (das All, Ganze) ohne ein Relatives (das Nichts, Einzelne), kein Positives (das Ja, Konzentrierte) ohne ein Negatives (das Nein, Dezentrierte), kein Subjektives (die Zeit, die Energie, das Männliche) ohne ein Objektives (der Raum, die Materie, das Weibliche), kein Physischesa (Quantitatives, Reales) ohne ein Psychisches (Qualitatives, Ideales), und endlich, kein Dasein (Tag, Leben) ohne ein Gegendasein || (Nacht, Tod). Alles was sonstwie noch als dualistisch im Kosmos, also als Satz und Gegensatz gedacht werden kann, wie z. B. herrschen und dienen, oder Natur und Kultur usw. gehört zu einer dieser fünf dualistischen Urbegriffe, ist also nur eine Andersbenennungb von einer derselben.

Wenn im Kosmos von einem Monismus die Rede sein kann, so kann er nur in der Einheit des Prinzips aller Erscheinungen und Tatsachen gefunden werden. Diese Einheit dürfte also nicht nur für die Keimes- und Stammesgeschichte Geltung haben, sondern für alle Geschichten resp. Geschehnisse des Kosmos überhaupt! Das einheitliche Prinzip aller Geschehnisse ist aber das „Kosmos-Prinzip“.

Dieser kosmische Monismus steht in keinem Gegensatz zum kosmischen Dualismus der obigen Urbegriffe (also des „Absoluten und Relativen“, „Positiven und Negativen“, „Subjektiven und Objektiven“, „Quantitativen und Qualitativen“, „Dasein und Gegendasein“), sondern besteht neben ihnen! Vielleicht unterziehen Sie einmal Ihre monistische Weltanschauung von diesen Gesichtspunkten aus einer Korrektur. Sie kommen dann von selbst auf das „Kosmos-Prinzip“, als das monistische Prinzip, das den Kosmos erhält; mittels seiner genauen Kenntnis aber zu weiteren ganz überraschen Erkenntnissen.

Ich verbleibe hochgeschätzter Meister, mit dem Ausdruck meiner vorzüglichen Hochachtung

Ihr sehr ergebener

Hans Christiansen

a korr. aus: physisches; b korr. aus: Anderbenennung

Brief Metadaten

ID
5035
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
19.03.1917
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
2
Umfang Blätter
2
Format
22,5 x 28,9 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 5035
Zitiervorlage
Christiansen, Hans an Haeckel, Ernst; Wiesbaden; 19.03.1917; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_5035