Hans Christiansen an Ernst Haeckel, Wiesbaden, 12. Januar 1916

Professor

Hans Christiansen

Wiesbaden

12.1.16.

Hochgeschätzter Meister,

Sie haben mich durch die Übersendung Ihrer drei bekanntesten Werke mit eigenhändig geschriebenen Widmungen sehr geehrt. Empfangen Sie dafür meinen allerbesten Dank!

Es war mir besonders interessant in Ihrem Werk „Ewigkeit“, die Stellung kennen zu lernen, die Sie gegenüber dem Weltkrieg einnehmen. Wenn ich auch in manchen Ihrer Ausführungen nicht Ihrer Ansicht bin, so bewundere ich doch die Kraft, Eleganz und Knappheit, mit welcher Sie noch immer eine so große Aufgabe auszuführen vermögen. Hoffentlich bleiben Sie in dieser Frische dem deutschen Forschertum noch recht lange erhalten! ||

Wenn ich Ihnen nun schreiben würde, daß ich Ihre wohlverdiente Altersruhe nicht durch eine Kritik Ihrer Ansichten stören möchte, so würden Sie mich gewiß auslachen. Kampf, d. h. Angriff durch Ihre Ideen und Verteidigung derselben war ja Ihr ganzes Leben und wird es gewiß bleiben, solange Ihra Herzb noch schlagen wird. Sie haben der Menschheit viele und große Wahrheiten für ihr Dasein erschlossen, die als gelöste Welträtsel für alle Zeiten mit Ihrem Namen verknüpft sind. Aber Sie selbst sagen ja, daß alle unsere Arbeit nur Stückwerk der Entwicklung ist; hinter jedem gelösten Welträtsel entdecken wir immer wieder neue, größere, die der Lösung harren.

Mein Werk dürfte Ihnen wohl erst als die Arbeit eines Dilettanten in der spekulativen Wissenschaft vorgekommen sein. Ich nehme aber || doch an, daß Sie mehr als einen flüchtigen Blick in seinen Inhalt geworfen haben. Ich weiß sehr gut, daß meine Ausführungen sehr wenig klar und einfach sind und dieses kommt mir umsomehr zum Bewußtsein angesichts Ihrer so verständlich und übersichtlich gehaltenen Werke. Doch glauben Sie mir, die Lösung dieser gewaltigen Aufgabe, soweit ich von einer solchen sprechen kann, war für mich viel leichter zu durchdenken, als sie in eine leichtverständliche literarische Form zu bringen.

Sie werden aus meinen Werken wohl entnommen haben, daß ich ebenso wenig Monist bin in Ihrem Sinne, wie Dualist im christlichen.

Ich will mir eine persönliche Weltanschauung selbst schaffen und bin dabei so wenig bescheiden, zu erwarten, daß im Kampfe ums Dasein unter Weltanschauungen || (in welchem ich mit der Herausgabe meines Buches eine Offensive ergriffen habe) alle anderen allmählich dieser meiner gegenüber, weil sie die stärkere ist, unterliegen müssen.

Nehmen Sie mir diese selbstbewußte Sprache nicht übel. Sie soll Ihnen nur die große Zuversicht ausdrücken, mit welcher ich an den Erfolg meiner Ideen glaube. Ich möchte auch nicht bescheidener erscheinen, als ich wirklich bin! Im Kampfe um die, sei es reale, sei es ideale, Selbsterhaltung ist Bescheidenheit immer nur Fehler, da sie eine Vermischung von Egoismus und Altruismus ist. Ist man in einem solchen Kampfe der schwächere Teil, so zwingt einen die Erhaltung sich dem Gegner anzupassen, ist man der stärkere, so muß sich der Gegner einem anpassen. Und je mehr man, sei es real, sei es ideal das Subjektive seines Wesens vom Objektiven scheidet, desto stärker ist || man im egoistischen Daseinskampf, wie man umso gefälliger im altruistischen ist, je mehr man, sei es real, sei es ideal, das Objektive seines Wesens von Subjektiven scheidet.

Der Monismus ist zum Teil ebenso anfechtbar, wie der Dualismus! Das Physische und Psychische ist ebenso absolut und relativ von einander geschieden, wie mit einander vermischt. Der Kardinalfehler beider Anschauungen ist der, im Geist und in der Seele kurzerhand ein und dasselbe zu erblicken, während diese zwei Begriffe sich doch in unserem (und jedem!) Wesen wie zwei Pole diametral gegenüber stehen. Geist ist umsomehr Geist (ideal-selbstsüchtig, ethisch-kultürlich), je weniger er mit Seele, sowie Seele umsomehr Seele (ideal-selbstlos, ästhetisch-kultürlich), je weniger sie mit Geist vermischt ist! ||

Ich bitte Sie nur einmal Ihr eigenes so ausdrucksvolles Wesen daraufhin zu analysieren. Einmal den Unterschied von Geist und Seele erkannt, heißt den Weg gefunden zu haben, der zum „Kosmos-Prinzip“ hinführt.

Das allmähliche Entstehen des Organischen auf der Erde, jedes Weltgeschehen, das geringste, wie das größte, läßt sich nur durch dieses Prinzip erklären! Die Energie, das Subjektive, füllt den absoluten und relativen Kosmos als Zeit, die Materie, das Objektive, als Raum aus; beide aber, nach dem „Kosmos-Prinzip“, quanti- und qualitativ wechselseitig sich konzentrierend (positiv werdend) und sich dezentrierend (negativ werdend).

Ewigkeit ist ebenso gut das absolute und relative „All“, wie das absolute und relative „Nichts“ von quanti- und qualitativer Energie und Materie (Zeit und Raum). ||

Da das subjektive und objektive Qualitative von Energie und Materie im Dasein zunimmt, sobald das objektiv und subjektiv Quantitative im Gegen-Dasein abnimmt und umgekehrt, so ist der Krieg so wenig verdammenswert (und lobenswert!), wie der Frieden (so wenig, wie z.B.c auch Tag und Nacht es sind). Gerade im Kriege (wie am Tage) entsteht aber das, was wir Kultur nennen, Geist und Seele, („Wenn die Not am größten, ist Gott am nächsten!“ d d.h. in der Not des Ichs entsteht Geist, in der Not des Anderen, Seele), während zugleich Kraft und Stoff vergeht, im Frieden (wie in der Nacht) ist das Umgekehrte der Fall.

Seien Sie versichert, daß, wenn auch noch alles wenig geklärt ist, die Entdeckung des „Kosmos-Prinzips“ von größter Bedeutung für die weitere Menschheits- (im besonderen Deutschtums-) Entwicklung sein wird. Ich bin überzeugt, daß der Monismus || als Zukunftsreligion nur ausbaufähig ist in der Erkenntnis und bewußten Befolgung dieses Prinzips.

Wir werden nach dem Kriege ohne Zweifel einen großen Kampf zwischen Monismus und Dualismus, einen neuen „Kulturkampf“, erleben, lassen Sie sich in diesem Kampfe die starke Waffe des „Kosmos-Prinzips“ nicht entgehen!

Das Interesse für meine Ideen ist im Erwachen. Ich beabsichtige, zum Frühjahr eine Propagandareise dafür zu unternehmen; vielleicht führt mich mein Weg dann auch nach Jena!

In großer Verehrung und nochmaligem Dank verbleibe ich Ihr sehr ergebener

Hans Christiansen.

a korr. aus: Ihre; b korr. aus: Herzen; c eingef.: z.B.; d gestr.: )

Brief Metadaten

ID
5033
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
12.01.1916
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
8
Umfang Blätter
4
Format
13,8 x 21,6 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 5033
Zitiervorlage
Christiansen, Hans an Haeckel, Ernst; Wiesbaden; 12.01.1916; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_5033