Marie und Karl Hübner an Ernst Haeckel, Breslau, 11. Juni 1907
Breslau, am 11. Juni 1907.
Hochverehrter Herr Geheimrat!
Hiermit erlaube ich mir, die Belege für ein neues Beispiel progressiver Vererbung zu übersenden, das dadurch, daß der Erwerber der Narbe noch lebt und sich des Vorgangs genau entsinnt, vielleicht noch lehrreicher ist, als das Waltersche. Der Erwerber der Narbe, ein hiesiger Kollege, hat diese Eigentümlichkeit, wie beiliegende Skizze zeigt, auf seinen ältesten Sohn und dieser sie auf sein bisher einziges Kind übertragen. Da wir die Erlaubnis, Ihnen von dieser Tatsache Mitteilung machen zu dürfen, nur unter der Be-||dingung erhalten haben, daß bei einer etwaigen Veröffentlichung des Beispiels kein Name genannt werde – den Grund geben die auf der Rückseite der Skizze stehenden Zeilen des Kollegen an – so bin ich genötigt, Ihnen diese Bitte auszusprechen. Die beiliegenden Photographien, vom Kollegen Käkuschke in liebenswürdigster Weise angefertigt, zeigen nur das anormale Ohr; sollten Sie als Gegenstück auch das normale wünschen, so ist der Kollege, der sich freut, der Wissenschaft einen kleinen Dienst leisten zu können, jederzeit bereit, auch das zweite aufzunehmen.
Auch hoffen wir, den Herrn Pastor bei seinem nächsten Besuche, den er Ende dieses Monats seinen Eltern zu machen gedenkt, gleichfalls || zu bewegen, sein Ohr photographieren zu lassen. Ob es uns gelingt, ist aber, ebenso wie sein Besuch, noch unsicher; deshalb halte ich es für besser, das, was wir haben, zu senden in dem Gedanken, daß Sie noch im Laufe des Sommers einen Aufsatz über dieses Vererbungsproblem veröffentlichen wollen.
Nach der Erzählung des Kollegen zog er sich die Narbe auf folgende Weise zu: Er kam als sechsjähriger Knabe aus der Schule nachhause, begeistert durch die Geschichte von Ruth, die er in der Schule gehört hatte. Gewöhnt, seiner Großmutter alles, was ihn bewegte, in Form von Predigten, die er vom Stuhle aus hielt, mitzuteilen, wollte er es auch mit dieser biblischen Geschichte tun. Im Feuer der Rede verlor er das Gleichgewicht, fiel vom Stuhle, zerschlug dabei || ein auf der Erde stehendes Geschirr und zog sich durch die Scherben desselben einen tiefen Schnitt in den oberen Teil der Ohrmuschel zu, der einen in der Wirklichkeit sehr sichtbaren Einschnitt im äußern Umriß derselben mit einer Erhöhung der Schnittränder hinterließ. –
Wir freuen uns sehr, Sie rüstig und frisch, von Ehrungen des In- und Auslandes empfangen, wieder daheim zu wissen und danken Ihnen recht herzlich für die große Freude, die Ihr letzter gütiger Brief in seiner Heiterkeit und Lebensfrische, als Zeichen, daß Sie unser noch freundlich gedenken, uns bereitet hat. An die Mitteilung desselben anknüpfend, daß Sie das Waltersche Vererbungsbeispiel in Ihrem Aufsatz verwenden wollen „unter dankbarer Anführung der Quelle – “, scheint es uns, als verschwänden die unbedeutenden Handlangerdienste, die wir einer großen Idee leisten dürfen, so ganz hinter dieser selbst, daß wir, Ihnen für Ihre freundliche Absicht aufrichtig dankbar, Sie bitten zu müssen glauben, uns nicht durch die Ausführung derselben zu beschämen.
Die Beilegung des neuen Lehrmittelverzeichnisses unseres Schulmuseums bitte ich meiner Freude über die Arbeit meines lieben Mannes zu verzeihen. Zwei Anschauungsbilder und ein kleines Häuflein pädagogischer Bücher übergab ihm 1891 die Stadt als Grundlage für das Institut, das er durch unermüdliches, liebevolles || Schaffen zu dem gemacht hat, wovon der beiliegende und ein ebenso starker Bücherkatalog eine Übersicht gibt. Ihre „Kunstformen“ und „Wanderbilder“ fehlen nicht und erfreuen und entzücken uns selbst und die Besucher des Museums immer aufs neue.
Dem phyletischen Museum ein Entstehen und Wachsen in und nach Ihrem Sinne wünschend und hoffend, daß wir Ihnen nach diesem noch für viele Gaben Ihres reichen Wesens werden danken dürfen, bleiben wir in treuer Verehrung
Max u. Marie Hübner.
[Beilage: Brief von Wilhelm Köhler an Marie Hübner]
Breslau den 29.5.07.
Liebe Frau Hübner!
Ich teile lieber ohne Schema kurz mit: Mein Sohn K. hat die Narbe nicht am linken, sondern am rechten Ohr in derselben Höhe der Ohrmuschel. Sein Töchterchen H., jetzt 2½ Jahr alt, hat die Narbe gleichfalls am rechten Ohr in derselben Höhe, dazu aber auch eine schwächere Narbe am linken Ohr. Mein Sohn hat nur im Umriß angedeutet: [Skizze des Ohres] die Höhe würde bei allen dreien stimmen. Meine andern Kinder habe ich alle 4 noch einmal daraufhin besichtigt, aber nichts gefunden. Bitte also mit der Namensnennung meines Sohnes diskret zu verfahren. Es genügen ja Andeutungen und Anfangsbuchstaben. – Auf der Rückreise von Camenz hat mein Sohn, der Pastor, gewiß nicht mehr Zeit gehabt, noch einmal bei uns abzusteigen. Tut aber nichts zur Sache. Besten Dank für sonstige interessante Mitteilungen. (Wie lange vor 54 Jahren nach der Beschädigung des Ohres die Blutstillung und Heilung gedauert hat, kann ich allerdings nicht im entferntesten angeben.) Nun bloß noch die Zeichnung. Dann dürfte die Auskunft wohl genügen.
Mit bestem Gruße, auch an den Mann
Ihr
W. Köhler. ||
[nachträgliche Notiz von Marie Köhler]
Rektor a K. in Breslau, geb. 1846b zog sich in seinem 7. Lebensjahre durch den Fall auf ein Porzellangefäß, das dabei zerbrach, einen Schnitt in den äußeren Rand der linken Ohrmuschel zu. Die nach der Heilung desselben zurückgebliebene Narbe vererbte sich, wie folgt:
[Zeichnung: Stammbaum mit Vermerk der Vererbung]
a gestr.: W.; b korr. aus: 1847