Carus, Paul

Paul Carus an Ernst Haeckel, Chicago, 16. Februar 1892

THE

OPEN COURT PUBLISHING COMPANY,

169-175 LA SALLE STREET.

E. C. HEGELER, PRESIDENT.

DR. PAUL CARUS, EDITOR.

CHICAGO, 16 Febr 1892

Herrn Professor Ernst Haeckel

Jena.

Hochverehrter Herr Professor!

Anbei sende ich Ihnen eine Besprechung Ihrer neuen Auflage der Anthropogenie, die schon vor einiger Zeit in The Open Courta erschienen ist, u. außerdem einen Correcturbogen einer weiteren Besprechung in The Monist. In der letzteren habe ich die Puncte besprochen, in welchen es den Anschein hat, als ob Ihre und unsere (des Monist u. Open Court) Auffassung von Monismus auseinandergehen; Und es würde mir sehr angenehm sein, falls Sie Zeit fänden, die Auseinandersetzungb zu erwägen. ||

Ich stimme mit Ihnen ganz überein, daß alle Bewegungen in der Welt mechanisch erklärt werden können. Aber es giebt Dinge in der Welt, die nicht mechanisch sind. Die Bedeutung einer Ode z. B. ist nicht eine Bewegung, daher wäre es unangebracht, sie mechanisch erklären zu wollen. Der Denkproceß im Gehirn ist mechanisch, aber nicht die Empfindung, welche stattfindet, wenn der Mensch denkt, wenn sein Gehirn arbeitet.

Ich verwerfe den Materialismus, weil Materialismus die Anschauung ist, welche Alles durch Stoff u. Bewegung erklärt. Es giebt aber viele Dinge, die weder Stoff noch Bewegung c sind. Z. B. ein Kreis, wie ihn sich der Mathematiker denkt, ist weder Stoff noch Bewegung – überhaupt gilt dies vond allen reinen Formen, u. Form ist eine Eigenschaft der Wirklichkeit, nicht etwa bloß eine subjective Erfindung. ||

Die Idee der Gerechtigkeit kann nicht mechanisch erklärt werden, auch nicht stofflich. Deshalb aber ist diese, wie alle anderen Ideen, nicht etwa ein Mysterium; sondern sie kann einfach nicht stofflich oder mechanisch erklärt werden, weil sie weder Stoff noch Bewegung ist.

In meinem Buch The Soul of Man fasse ich die Seele auf als die Gesammtheite von repräsentativen Gefühlen eines Organismusf. Geistig oder mental wird ein Gefühlg dadurch daß es etwas bedeutet; es wird ein Symbol für etwas.

So werden die Dinge der Außenwelt u. unsere Beziehungen (relations) zu denselben in Gefühlen dargestellt (symbolisirt)h. Die Gesammtheit dieser Empfindungssymbole ist die Seele. Diese Empfindungssymbole dienen der Anpassung. Sie beeinflussen unsere Reaction auf Reize; sie bestimmen unser Handeln. Sie dienen diesem Zweck, indem sie || die Dinge u. Beziehungen richtig repräsentiren, indem sie wahr sind. Wahrheit besteht weder aus Stoff noch aus Bewegung, sondern ist die Übereinstimmung eines Symbols mit dem was das Symbol vorstellt.

Ich finde, daß man Ihre Auffassung als crassen Materialismus und Mechanikalismus dargestellt hat. Fiske ein amerikanischer Philosoph sagt in einem kürzlich erschienenen Artikel (Popular Science Monthly), daß Ihr Gott wenn Sie überhaupt einen hätten, Kraft u. Stoff sei u. er sagt, daß in einer Weise als gäbe es nach Ihrer Auffassung weder etwas Geistiges noch Ideales, als obi Begriffe wie Gerechtigkeit u. Wahrheit, weil siej nicht aus Kraft u. Stoff k bestehen, gar nicht existirten.

Ich finde, daß die Stellen, worauf diese Auffassung Ihrer Weltansicht sich begründen, allerdings Grund dazu gaben. Doch meine ich || daß Sie dieselben nur aus Opposition gegen diesen Supernaturalismus so scharf ausgedrückt haben. Sie haben sich ja nicht auf das philosophische Problem einer monistischen Weltauffassung sondern auf mehrere naturwissenschaftliche Probleme derselben concentrirt, u. was Sie über Details des philosophischen Problems sagen, sollte nicht auf die Goldwaage gelegt werden, es solltei nicht nach dem genauen Wortlaut sondern nach dem Sinn im Ganzen u. Großen gedeutet werden. Ich kann mit dem Wortlaut nicht übereinstimmen, wohl aber fühle ich, daß wir sachlich doch dasselbe meinen.

Einliegende Besprechung soll in der April No des Monist erscheinen. Falls Sie einige Worte hinzuzufügen haben, können dieselben vielleicht noch in derselben No m Aufnahme finden.

Mit bestem Gruß hochachtungsvoll

P. Carus

a eingef.: in The Open Court; b gestr.: dieselbe, eingef.: die Auseinandersetzung; c gestr.: xxx; d eingef.: gilt dies von; e gestr.: systematische Einheit, eingef.: Gesammtheit; f eingef.: eines Organismus; g korr. aus: Gefühle; h eingef.: (symbolisirt); i eingef.: als ob; j gestr.: die, eingef.: weil sie; k gestr.: bestünden; l gestr.: xxx, eingef.: es sollte; m gestr.: Auff

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
16.02.1892
Entstehungsort
Entstehungsland
USA
Zielort
Jena
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 48492
ID
48492