Ernst Haeckel an Carl Gegenbaur, Villafranca bei Nizza, 1. Mai 1864

Villafranca bei Nizza | 1. Mai 1864

[] Es war ein großes Glück, daß ich gerade jetzt auf die Craspedoten fiel; ein ergreifenderes und reizenderes Thema hätte ich kaum finden können; sie haben die Radiolarien ganz aus mir verdrängt und es ist ihnen sogar gelungen, mich zeitweis von den bitteren Trauer-Gedanken und düsteren Zukunfts-Fragen abzuziehen, die sonst keine andere Vorstellung neben sich aufkommen lassen. Vorzugsweise haben mich bis jetzt die Geryoniden und Oceaniden beschäftigt. Das Material ist bei dem schlechten stürmischen Wetter im Ganzen nicht reichlich; allein ich finde doch immer genug zur beständigen Arbeit, und wenn ich nichts anderes finde, so hilft unfehlbar deine Liriope mucronata diesem Mangel ab, deren Entwicklung ich jetzt fast vollständig habe. Von Oceaniden habe ich sehr reizende neue Arten aus den Gattungen Saphenia, Dipurena, Euphysa, Steenstrupia, Bougainvillea gefunden. Leider sind dagegen die Aeginiden nur durch Aeginopsis vertreten. Auch die Eucopiden sind spärlich. Denke dir aber, daß ich von Acraspoden in diesen ganzen 6 Wochen noch nicht ein einziges Individuum gesehen habe, ebenso nicht eine einzige Salpe! Auch die übrigen pelagischen Schwimmer, die sonst in der Fauna von Nizza eine so große Rolle spielen, sind in diesem Frühjahr nur äußerst spärlich erschienen. Alle Fischer versichern einstimmig, daß noch nie so wenig „Carmarina“ hier gewesen sind, und die ältesten Leute wissen sich einer so abnormen Witterung nicht zu erinnern. Der ganze April, der sonst hier einer der schönsten und ruhigsten Monate ist, war äußerst stürmisch und das andauernd trockene und kalte Wetter hat die Vegetation um 1–2 Monate zurückgeschraubt. Indessen habe ich mich dabei doch wieder von Neuem überzeugt, daß ein Naturforscher am Meer doch eigentlich unter allen Umständen Arbeitsmaterial findet, wenn er nur will. Noch nie ist mir die Arbeit so wohltätig, so erwünscht gewesen wie jetzt hier. Alle anderen Agentien, auch der Genuß der herrlichen mediterranen Natur, bleiben gegenüber meinem Zustande eigentlich ganz wirkungslos. ||

Ich betrachte übrigens die jetzigen Craspedoten-Untersuchungen nur als die erste Vorarbeit und Einleitung zu einer umfassenden Bearbeitung dieser Gruppe, die mir hoffentlich über die nächsten Lebensjahre hinweghelfen wird. Es gibt da noch außerordentlich viel zu tun, und gerade die Schwierigkeit der komplizierten Entwicklungs-Verhältnisse reizt mich ungemein, um so mehr, als man noch kaum angefangen hat, sich derlei allgemein ansprechende Vorstellungen zu bilden. Der Zukunftsgedanke, der mich jetzt am meisten beschäftigt, ist ein längerer Aufenthalt am roten Meer, wo man gewiß mit dem verhältnismäßig geringsten Aufwand von Mitteln das reichste Material vorfinden wird. Wenn es sich anders nicht machen läßt, werde ich vielleicht sogar meine Jenenser Stellung aufgeben, um diesen Plan, der mich täglich mit steigender Intensität verfolgt, zu realisieren. Wenn ich nicht Dich und die anderen lieben Freunde in Jena hätte, so würde ich je eher, je lieber für immer von dem Orte scheiden, wo ich kurze Zeit so überaus glücklich war, um dann plötzlich so überaus unglücklich zu werden. Alles andere, was mir Jena außer Eurer Freundschaft sonst noch Reizendes bot – und es war sehr, sehr Viel! – hat für mich allen Reiz verloren. Nie werde ich dort wieder heimisch werden! Freilich würde ich mich überall freudlos und fremd fühlen, denn der Verlust der Einzigen Heimat ist nicht zu ersetzen. Ich glaube aber, daß ein längerer Aufenthalt am Meer mit der Arbeit, die ergreifend wie keine andere ist, mir noch am ehesten eine einigermaßen befriedigende oder doch erträglichea Existenz gewähren wird. Kein Meer dürfte aber gerade jetzt mehr der Erforschung wert sein als das Rote Meer. In wenigen Jahren ist der Kanal von Suez vollendet und dann wird voraussichtlich bei den ganz veränderten Verhältnissen des Kampfes ums Dasein die Fauna einen ganz anderen Character erhalten. Es erscheint mir also überaus wichtig und interessant, die Fauna des Roten Meeres einer gründlichen Untersuchung zu unterziehen, ehe sie durch die Mischung und den Kampf mit der mediterranen diese neue, ganz andere Zusammensetzung erhalten wird! ||

Wie dir mein letzter Brief inzwischen gemeldet haben wird, ist meine Medusen-Arbeit in voriger Woche durch einen 12 Fuß langen Delphin unterbrochen worden, ich vermute, einen Hyperoodon micropterus, den ich angekauft habe, um das Skelett für Dein Museum zu präparieren. So sehr ich Dir damit eine Freude zu machen wünschte, so hätte ich doch das Unternehmen wohl nicht angefangen, wenn ich vorher gewußt hätte, wieviel Ärger und Mühe und wieviel Zeit und Geldaufwand mich die ganze Geschichte kosten würde. Nicht weniger als 5 Tage habe ich damit verloren. Die Bestie lag am Strande von St. Jean, 1½ Stunden von hier, und war außerdem schon so stark in Verwesung übergegangen, daß ich die größte Mühe hatte, ein paar Fischer zu finden, die mir beim Abschälen der kolossalen Fleischmassen halfen. Der Transport nach Villafranca wurde nicht gestattet, weil der Maire befürchtete, ich würde durch den Verwesungsgeruch eine Epidemie erzeugen. Fast die größte Mühe aber kostete die Emballage, die ich in Nizza auf offener Straße vornehmen mußte. Um das Ungemach zu vollenden, bekam ich noch am Zeigefinger der linken Hand während der Präparation eine kleine Verletzung und infolge der putriden Infektion eine gelinde Lymphangitis, die sich jedoch bald legte. Da hieß es: Geduld! die ich freilich jetzt mehr als je habe. Kurz, ich war endlich froh, als die beiden großen Kisten glücklich auf die Eisenbahn abgeliefert waren.

Der Monat, der heute beginnt, wird für mich noch ein sehr schwerer werden! Heute vor einem Jahr genossen wir zusammen im Schwarzatal einen reizenden Frühlingstag, und der 3. Mai war unser Verlobungstag. Freilich könnte ich fast für jeden Tag des Jahres eine liebliche Erinnerung aus den vorigen Jahren auslesen, die wir zusammen genossen. Ich lerne täglich mit mehr Resignation den Gedanken fassen, daß Alles das nun für immer vorbei ist, und ich hoffe wesentlich gestärkt und beruhigt zu Euch zurück zu kehren. Aber anb einer wirklichen Genesung oder wenigstens eine erträglichen Linderung der c unheilbaren Wunde fehlt noch viel. Ich glaubte auch jetzt schon recht fest, wäre ich in den letzten Wochen hier unter ganz fremden Verhältnissen von den gewaltsamen Ausbrüchen des wildesten Schmerzes verschont blieb, die mich anfangs hier noch ergriffen hatten. || Allein als vor 8 Tagen ein deutscher Landschaftsmaler, Grönland aus Altona, mich hier aufsuchte, als ich wieder die mächtig ergreifende Laute der Muttersprache hörte und erwiderte, war plötzlich alle gewonnene Fassung dahin und der wochenlang aufgespeicherte Schmerz entlud sich in der wildesten Verzweiflung. Dennoch hat mir dieser Besuch sehr wohl getan. Ich habe in diesem trefflichen älteren Manne, eine sehr tief und feind empfindende Natur, einen Freund gewonnen, dessen Umgang nun hoffentlich nicht nur in diesen 8 Tagen trostreich und wohltätig war. Da klammert sich jetzt die liebearme vereinsamte Natur an jede Freundschafts(neigung?) die sich darbietet; wie sehr empfinde ich jetzt, was ich durch Euch, Ihr lieben Freunde, in dieser Beziehung verdanke.

Das alles fühle ich e jetzt lebhaft, was ich dir verdanke, treuer Freund, mit dem mich ja die Gleichheit der Neigungen, der Naturliebe und der Weltanschauung trotz aller Verschiedenheit unseres Characters so innig verbindet. Bleibe du mir auch ferner der starke Stamm, an den sich mein schwaches Rohr anlehnen darf. Gar sehr werde ich diese Deine freundschaftliche Hilfe [] f

a eingef.: oder doch erträgliche; b eingef.: an; c gestr.: schmerzend; d eingef.: u fein; e gestr.: j w; f gestr.: Gar sehr … Hilfe ….

Brief Metadaten

ID
48444
Gattung
Briefabschrift
Empfänger
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Frankreich
Entstehungsland zeitgenössisch
Frankreich
Datierung
01.05.1864
Sprache
Dänisch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
4
Format
21,7 x 28,7 cm
Besitzende Institution
Unbekannt
Signatur
EHA Jena, A 48444
Zitiervorlage
Haeckel, Ernst an Gegenbaur, Carl; Villefranche sur Mer; 01.05.1864; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_48444