Otto Liebmann (Dekan) an die philosophische Fakultät der Universität Jena, Jena, 12. Februar 1899
Philosophische Fakultät
Jena
Jena, den 12t Februar 1899.
Senior venerande!
Assessores gravissimi!
Anliegendes Referat des Herrn Collegen Haeckel und Correferat des Herrn Collegen Stahl bringe ich hier mit zu Ihrer Kenntniß, und bitte um Abstimmung über Zulassung des Herrn Dr. Leonhard Schultze zum Colloquium.
Hochachtungsvoll
Dr. O. Liebmann
z. Z. Dekan.
Für Zulassung zum Colloquium.
Haeckel
EbensoWinkelmann
Hirzel
Cloëtta
Settegast
Linck
Stahl
Thomae
Goetz
Knorr
Eucken
Vollers
Gelzer
Pierstorff
V. Michels
[Beilage]
Referat über die Habilitations-Schrift des
Dr. phil. Leo Schultze aus Jena, über:
„Das Verhältniss der Regeneration und Knospung zur
Lehre von der Homologie der Keimblätter“
Decane maxime spectabilis!
Das Thema, welches Herr Dr. Leo Schultze sich für seine Abhandlung zur Erlangung der Venia docendi in unserer Facultät gewählt hat, gehört einerseits zu den wichtigsten und interessantesten, andererseits zu den schwierigsten und unklarsten der allgemeinen Zoologie. Das zeigt schon der Einblick in die betreffende umfangreiche Litteratur, welche reich an Widersprüchen und Verkehrtheiten ist.
Der Verfasser hat sich nun die dankbare Aufgabe gestellt, dieses biogenetische Chaos kritisch zu lichten, und zwar auf dem empirischen Grunde eigener Beobachtungen über die Tunicaten, welche er in einer anderen Abhandlung speciell bearbeiten wird. ||
Der erste Theil der Abhandlung stellt den Begriff des Keimblattes und seine Bedeutung für die Bildung des Thierkörpers fest – eine überaus wichtige Frage, über welche trotz unzähliger embryologischer Arbeiten bis auf die neueste Zeit eine merkwürdige Unklarheit herrschte. Nach einer guten Kritik der früheren Definitionen wird eine neue bessere gegeben, welche das Keimblatt charakterisirt als „einen Komplex von direct aus der Eitheilung hervorgegangenen Embryonal-Zellen, welcher einen bestimmten morphologischen und topographischen Organ-Character verbindet.“ Sodann wird die schwierige Mesoderm-Frage, das Verhalten der mittleren Keimblätter zu den beiden primaeren aufgeklärt, und das besondere Verhalten der Keimschichten in einzelnen Gruppen der Metazoen besprochen.
Der zweite Teil der Arbeit erörtert die Homologie der Keimblätter, welche ich zuerst 1872 in meiner Monographie der Kalkschwämme aufgestellt und in meinem phylogenetischen System zur Grundlage der Unterscheidung der einzelligen Protozoen und der vielzelligen, gewebebildenden Metazoen gemacht hatte. Der Verfasser widerlegt die scharfen Angriffe, welche neuerdings gegen || die Homologie der Keimblätter gerichtet worden sind und erörtert sehr eingehend ihre Beziehung zur Homologie der Organe. Besonders wichtig ist sodann der Nachweis der wesentlichen Verschiedenheit zwischen den primaeren Entwickelungs-Mechanismen der Embryogenese und den secundaeren Vorgängen der ungeschlechtlichen Reproduction, welche bei der Regeneration und Knospung zu beobachten sind.
Die umfangreiche Arbeit ist sehr klar disponirt, berücksichtigt alle wesentlichen Seiten des weitschichtigen Stoffes und zeichnet sich besonders durch das erfreuliche Streben nach scharfer Begriffsbestimmung vortheilhaft aus. Dieser philosophische Charakter der Abhandlung ist um so mehr zu loben, als gerade in dem schwierigen Gebiete der Keimblätterlehre der gedankenlose Empirismus der modernen Zoologie sich besonders breit macht, und als die sogenannte „Entwickelungs-Mechanik“ mit Erfolg behauptet, dass die eigentliche Wissenschaft ihren „exacten“ Charakter durch bloße Häufung genauer Beobachtungen und Messungen beweisen, von der Erkenntniss allgemeiner Begriffe aber absehen müsse. ||
Die Abhandlung des Dr. Leo Schultze als Habilitations-Schrift vollkommen druckwürdig. Es gereicht mir zur besonderen Freude, dass damit einer meiner talentvollsten Schüler in den Lehrkörper unserer Universität eintritt, der Sprössling einer Familie, die bereits in der dritten Generation durch werthvolle Leistungen auf dem Gebiete der Biologie sich auszeichnet.
Hochachtungsvoll
Ernst Haeckel
Jena, 16. Januar 1899.