Ernst Haeckel an Heinrich von Eggeling, Jena, 30. Dezember 1886 (Konzept)

Bericht des Professors Ernst Haeckel

in Jena, betreffend die Verwendung

des jährlichen Ertrages der

Paul von Ritterschen Stiftung für

phylogenetische Zoologie.

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Jena, 30. December 1886.

Als das Hohe Großherzogliche Staats-Ministerium am 27. Mai dieses Jahres in Weimar die Stiftungs-Urkunde der Paul von Ritterschen Stiftung für phylogenetische Zoologie entgegen nahm, sprach dasselbe den Wunsch aus, daß ich als derjenige, dem zunächst die Verwendung ihres jährlichen Rein-Ertrages zufällt, und der zugleich durch persönliche Mittheilungen die Intentionen des Stifters genau kennt, die letzteren in einem besonderen Berichte – zugleich als allgemeine Richtschnur für meinen Amts-Nachfolger – darlegen möge.||

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Dem Auftrage des Hohen Staats-Ministeriums nachkommend, glaube ich zunächst einige Erläuterungen über Begriff und Stellung der „phylogenetischen Zoologie“ (für deren Förderung die Stiftung bestimmt ist) vorausschicken zu sollen. Nachdem Charles Darwin 1859 den Grund zur heutigen Entwicklungslehre gelegt und damit die gesammte organische Naturwissenschaft in neue und höchst fruchtbare Bahnen gelenkt hatte, versuchte ich selbst vor zwanzig Jahren in meiner „Generellen Morphologie“ (1866) seine Principien auf meine Fachwissenschaft anzuwenden; ich sonderte die Entwickelungsgeschichte der Thiere in zwei coordinirte Theile, indem ich derjenigen der Individuen („Ontogenie“) die Entwickelungsgeschichte der Arten, Classen und Stämme („Phylogenie“) gegenüber stellte. Die erstere war ||

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bereits seit einem halben Jahrhundert mit Erfolg cultivirt und zu hohem Ansehen gelangt, während letztere völlig neu erschien und ihre Berechtigung erst zu erkämpfen hatte.

Obgleich diese neue historische Auffassung der Zoologie und ihre Consequenzen zunächst auf starken Widerstand stießen, brachen sie sich doch schon nach einem Decennium allmählig Bahn, und sind im Laufe der letzten fünf Jahre zu allgemeiner Anerkennung gelangt.

Die Phylogenie oder Stammesgeschichte, als die Wissenschaft von der Historischen Entwickelung des ganzen Thierreichs, steht heute eben so fest und anerkannt da, als ihre a fünfzig Jahre ältere Schwester, die Ontogenie oder Keimes-Geschichteb (Embryologie und Metamorphosen-Lehre). Das beweist jeder Blick in die ||

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heutige Litteratur der Zoologie und Botanik, und besonders in ihre Jahresberichte.

Indem aber die Phylogenie durch ihre Wechsel-Beziehung zur Ontogeniec d uns unmittelbar in die Erkenntniß e von deren Ursachen einführt und dadurch überhaupt die causale Erklärung der biologischen Phaenomene ermöglicht, hat sie eine umfassende, ihre ursprünglichen Grenzen weit überschreitende Bedeutung erlangt. Phylogenetische Zoologie ist heute bereits gleichbedeutend mit wissenschaftlicher Zoologie. Denn allgemein hat sich die Überzeugung Bahn gebrochen, daß alle Erscheinungen des Thierlebens nur durch die Erkenntniß ihrer historischen Entwickelung wahrhaft verstanden und ursächlich erklärt werden können.||

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Betreffend die Paul von Rittersche Stiftung für phylogenetische Zoologie ergiebt sich daraus unmittelbar die Folgerung, daß deren jährlicher Rein-Ertrag für alle Bedürfnisse der wissenschaftlichen Zoologie in Anspruch genommen werden kann. Jedoch sind dabei allerdings diejenigen Zweige unseres umfangreichen Forschungs-Gebietes zu bevorzugen, welche zur Phylogenie im engeren Sinne unmittelbar in Beziehung stehen. Als solche sind vor Allen drei hervorzuheben: 1. Die vergleichende Ontogenie oder Embryologie, 2. Die vergleichende Anatomie oder Morphologie, 3. Die Palaeontologie oder Petrefacten-Kunde. Diese drei Wissenschaften werden jetzt allgemein als die drei wichtigsten Urkunden oder Quellen der phylogenetischen Forschung ||

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betrachtet, und haben daher die nächsten Ansprüche auf Förderung durch die Ritter-Stiftung.

Auf den größeren Universitäten ist schon jetzt jeder dieser drei Zweige durch einen besonderen Lehrstuhl vertreten. Bei dem kräftigen Wachsthum der wissenschaftlichen Zoologie und bei f ihrer fortschreitenden Arbeitstheilung wird diese Einrichtung voraussichtlich später allgemein werden. Sollte erst das gesammte Capital der Ritter-Stiftung, 300,000 Mark, im Besitze der Universität Jena sein, so könnten dessen Erträgnisse zur Förderung aller drei Disciplinen verwendet werden. Da jedoch zunächst nur 2/5 des Capitals ausgehändigt sind (130,000 Mk), die übrigen 3/5 hingegen (170,000 Mk) erst nach dem Ableben des ||

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Stifters verfügbar werden, so gestattet vorläufig der jährliche Rein-Ertrag (– bei g 3 ½ Procent Zinsen circa 4500 bis 4600 Mark –) nur eine beschränktere Verwendung.

Nach reiflicher Erwägung aller in Frage kommenden Bedürfnisse, und unter gleichzeitiger Berücksichtigung der ausdrücklichen Wünsche des Stifters, erscheint es als das Zweckmäßigste, die eine Hälfte dieser Summe zu Gehältern für wissenschaftliche Hülfskräfte, die andere Hälfte zu Zoologischen Reise-Stipendien zu verwerthen. In ersterer Beziehung haben die Hohen Großherzoglich und Herzoglich Sächsischen Regierungen bereits h i j ||

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am 22. Juni dieses Jahres den von mir gestellten Antrag genehmigt, daß zunächst eine außerordentliche Secundaer-Professur der Zoologie, unter dem Namen „Ritter-Professur für Phylogenie“ gegründet und mit einem Jahresgehalte von 1500 bis 2000 Mk ausgestattet k werde. Der Inhaber derselben übernimmt zugleich die Pflichten des Zootomischen Prosectors.l Weiterhin erscheint es zweckmäßig, auch den Jahres-Gehalt des ersten Assistenten (welcher zugleich Custos m des Zoologischen Museums und der Zoologischen Instituts-Bibliothek ist), im Betrage von 600 bis 900 Mk, aus dem Ertrage der Ritter-Stiftung zu bestreiten. Durch beide Gehälter wird ungefähr die Hälften ||

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desselben absorbirt.

In Betreff der Zoologischen Reiseo-Stipendien, p für welche die andere Hälfte verwendet werden soll, ist daran zu erinnern, daß nach der ursprünglichen Intention des Herrn Paul von Ritter der gesammte Ertrag seiner Stiftung für „Wissenschaftliche Reisen zu Zoologisch-phylogenetischen Zwecken“ verwendet werden sollte. Nachdem es mir durch persönliche Rücksprache mit Herrn Paul von Ritter gelungen war, seine Intentionen zu erweitern und ihn zu der in der Stiftungs-Urkunde niedergelegten Fassung derselben zu bestimmen, hat derselbe wiederholt q den Wunsch ausgesprochen, daß in der Regel wenigstens die Hälfte des jetzigen Stiftungs-Ertrages zu solchen ||

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Reise-Stipendien verwendet werde, und daß zunächst ich selbst für meine Lebenszeit r davon Gebrauch machen möges. Wenn ich t nun auch u von Zeit zu Zeit diese persönliche Vergünstigung zu benutzen gedenke, so möchte ich doch schon jetzt den Grundsatz festgehalten wissen, daß zum Genusse dieses Reise-Stipendiums (getheilt oder im Ganzen) zunächst nur die Docenten und Assistenten des Zoologischen Instituts in Jena (in erster Linie der Director, sodannv der Inhaber der Ritter-Professur und der Custos), weiterhin jedoch auch andere Docenten unserer Universität und eventuell auch besonders befähigte Studirende berechtigt sein sollen. w x y ||

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Falls das Reise-Stipendium in einem Jahre nicht zur Verwendung kommt, kann die fürz dasselbe bestimmte Summeaa entweder für ein anderes wissenschaftliches Bedürfniß des Zoologischen Instituts (insbesondere für dessen Bibliothek), verwendet oder zum Stiftungs-Capital geschlagen werden. Hierüber, wie über die bb beabsichtigte Verwendung des Stiftungs-Ertrages überhaupt, wird cc alljährlich der ordentliche Professor ||

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der Zoologie, als Director des Zoologischen Instituts und dd statuten mäßiger Disponent der Ritter-Stiftung, den Hohen Großherzoglich und Herzoglich Sächsischen Regierungen seine Anträge zur Genehmigung zu unterbreiten haben (nach §. 2 der Stiftungs-Urkunde).

Schließlich erlaube ich mir, an das Hohe Großherzogliche Staats-Ministerium die ergebenste Bitte zu richten, das Universitäts-Rentamt zu beauftragen, dasselbe mögeee alljährlich eine Abschrift des Rechnungs-Abschlusses ff über die Erträge und die gg Verwendung der Ritter-Stiftung an hh den jeweiligen Ordinarius für Zoologie einreichen, welcher dieselbe bei den im Archive des Zoologischen Instituts deponirten Acten der Ritter-Stiftung zu behalten hat.

a gestr.: 50; b eingef. mit Einfügungszeichen: oder Keimesgeschichte; c eingef. mit Einfügungszeichen: durch ihre Wechsel-Beziehung zur Ontogenie; d gestr.: uns; e gestr.: der; f gestr.: der; g gestr.: 2; h eingef. u. gestr.: am 22. Juni; i eingef. u. gestr.: d. Antrag am 22. von mir im Mai d. J. gestellten; j gestr.: Antrag genehmigt, welchen; k gestr.: werde, derweil; l eingef.: werde. Der Inhaber derselben übernimmt zugleich die Pflichten des zoologischen Prosectors.; m gestr.: und; n eingef.: des Zoologischen Museums […] ungefähr die Hälfte; o eingef.: Zoologischen Reise-; p gestr.: für; q gestr.: nun; r gestr.: je; s eingef.: möge; t gestr.: auch; u gestr.: im Zweif; v eingef.: sodann; w gestr.: Der; x eingef., gestr.: Auch in; y gestr.: dieser Beziehung wird alljährlich der ordentliche Professor; z eingef.: die für; aa eingef.: bestimmte Summe; bb gestr.: jährliche; cc gestr.: der; dd gestr.: Di; ee eingef.: dasselbe möge; ff gestr.: der; gg gestr.: die; hh gestr.: den ordentlichen Professor der Zoologie.

Brief Metadaten

ID
47633
Gattung
Briefentwurf
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
30.12.1886
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
15
Umfang Blätter
10
Format
20,9 x 33,0 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 47633
Beilagen
Erstfassung
Zitiervorlage
Haeckel, Ernst an Eggeling, Heinrich von; Jena; 30.12.1886; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_47633