Ernst Haeckel an Anna Sethe, Neapel, 3. – 4. April 1859
Napoli, 3. 4. 59.
Schon 8 Tage bin ich nun hier, mein liebster Schatz, und wäre endlich so ziemlich eingerichtet, um meine Arbeiten beginnen zu können. Ich kann nicht grade sagen, daß diese 8 Tage mich sehr angesprochen und für den längeren Aufenthalt ermuthigt hätten. Der unzähligen Plackereien und Handeleien mit den Wirthsleuten, Fischern, Kaufleuten, überhaupt mit allen den Menschen, mit denen man in Berührung tritt, sind zu viele, als daß man sich hier irgend gemüthlich und heimisch fühlen könnte, und es wird wohl lange dauern, ehe ich mich daran gewöhnt habe. In diesen ersten Wochen meines Neapolitanischen Aufenthalts habe ich darüber, trotzdem ich nun schon ziemlich in die italienischen Gewohnheiten eingeweiht zu sein glaubte, so viel ärgerliche und unangenehme Erfahrungen gemacht, daß ich für die ganze fernere Zeit ein gutes Lehrgeld gegeben habe. Die Unzuverlässigkeit, Oberflächlichkeit, Leichtfertigkeit, der gaunerische Eigennutz übersteigt hier alle gewöhnlichen Grenzen und für einen rechten Deutschen ist dies Alles doppelt empfindlich. So kommt es, daß ich trotz der wundervollen Natur, die doch Alles gut machen sollte, mich hier noch gar nicht recht wohl fühlen kann und in den ersten Tagen stärkeres Heimweh, heftigere Sehnsucht nach meinem besten Schatzchen empfand, als fast vorher auf der ganzen Reise. Einen großen Theil der Schuld, daß mir die schöne Natur Neapels nicht alle diese unangenehmen Empfindungen mehr verwischt hat, muss das herrliche, unvergleichliche Rom tragen, von dem mir der Abschied ordentlich schwer wurde und dessen wundervolle Kunst- und Naturschätze einen so unauslöschlichen Eindruck in mir zurückgelassen haben, daß ich mich jetzt fast ebenfalls wie nach einer zweiten Heimath danach zurücksehne und täglich von Neuem bedauere, nicht noch einen zweiten Monat verwandt zu haben, um mir diese Herrlichkeiten alle noch viel tiefer und gründlicher einzuprägen, als es in den ersten 4 Wochen, auch bei möglichst fleißiger Durchmusterung, möglich war. Ich wäre dadurch allen den Unannehmlichkeiten entgangen, die die Fremdenüberfüllung jetzt hier mit sich bringt und hätte die genußreichsten Wochen meines Lebens verdoppelt. Wirklich traf Alles in möglichst glücklichem Verhältniß zusammen, um mir den Aufenthalt in Rom so angenehm als möglich zu machen; indeß ist es vielleicht auch grade gut, mit diesen 4 Wochen, in denen ich mir ein sehr vollständiges abgerundetes Bild der unvergleichlichen Stadt erworben hatte abzuschließen, ohne daß irgend störende Mißtöne sich in dessen reine Harmonie gemischt hatten. || Täglich, ja stündlich rufe ich mir die köstlichen Stunden, in denen ich diese unvergleichlichen Eindrücke in mich aufnahm, in das Gedächtniß zurück und suche sie dort fester und reiner zu fixiren. Könnte ich nur das ganze köstliche Bild, das ich von Rom und seiner Kunst im Sinn trage, wie es ist, photographiren und euch Lieben hinschicken; ich glaube ihr würdet damit zufrieden a sein. Fast täglich erneuere ich auch den Vorsatz, all die geordneten Eindrücke zu Papier zu bringen – und doch, jedenfalls wenn ich die Feder dazu ansetze, sinkt mir der Muth dazu, es auszuführen. Die Masse des edlen Stoffes ist so überwältigend, daß ich nicht weiß, wo anfangen, und die Beschaffenheit desselben so edel, daß ich nicht wage, ihn irgendwo anzugreifen und mit einer Art heiliger Scheu davor zurückschrecke. So haben sich bis jetzt alle Aufzeichnungen über Rom auf das Tagebuch beschränkt, in dem ich mit dürren Worten das jeden Tag Gesehene und Erlebte eingetragen und in kurzen Worten charakterisirt habe. Wenigstens kann ich mir daraus später, falls ich jetzt nicht dazu kommen sollte, ein ziemlich vollständiges Bild von dem göttlichen Rom und der herrlichen darin verlebten Zeit wiederherstellen, wobei mich die Menge der Bilder und Ansichten, die ich mitbringe und auf die ich Euch hauptsächlich vertrösten muß, sehr unterstützen werden. Vielleicht geht es mir mit Neapel auch noch ähnlich, daß es mir je länger, je mehr gefällt, wie es in Rom wohl den meisten geht. Anfangs fühlte ich mich auch dort nicht so heimisch und zuletzt mochte ich kaum wieder fort. Doch tritt da schon ein Unterschied ein, der die Auffassung von beiden wesentlich verschieden macht: In Rom hatte ich nur die eine Aufgabe: es möglichst genau kennen zu lernen und alle Herrlichkeiten möglichst zu genießen ‒ ganz anders hier in Neapel, wo die Arbeitsaufgabe so in den Vordergrund tritt, daß sie mich nicht zu einem reinen Genuß kommen lassen wird. Eine dumme, penible Gewissenhaftigkeit hat mir schon in dieser ersten Woche hier keine rechte Ruh gelassen und mir alle Zeit, die ich nicht meinem wissenschaftlichen Hauptreisezweck widme, verloren erscheinen lassen; überall, wo ich bis jetzt hier war fand ich nirgends rechte Ruhe und sah nirgends mit reinem Genuß und voller Hingebung die Naturpracht an. Das blaue Meer schien mir ordentlich vorwurfsvoll in die Augen zu strahlen, daß ich seinen Reichthum an Thieren und Pflanzen bisher noch so wenig gewürdigt und auf Bergen und in der Stadt mich herumtrieb, statt daheim hinter dem Mikroscop zu sitzen. Nun ich hoffe in dieser Woche wenigstens nachzuholen, was in den vorigen nicht mehr möglich war. ||
Am Samstag 2. 4. packte ich Vormittags zum erstenmal das Koffer und die große Botanisirtrommel aus, welche seit Berlin unberührt geblieben waren. Fast Alles ist ganz unversehrt und glücklich übergekommen, namentlich das Wichtigste, Deine liebe, herzige Photographie, die mir jetzt jeden Morgen beim Kaffee trinken Gesellschaft leistet, ferner die Microscope, die Gläser etc. Nur einige Kleinigkeiten waren zerbrochen. Recht lebhaft mußte ich mir beim Auspacken alle die Umstände und Situationen des Einpackens ins Gedächtniß rufen, wobei Du mich so treu und lieb unterstützt hast; Dir gebührt eigentlich allein die Ehre Alles so gut verpackt zu haben, daß es so wohl conservirt angekommen. Hab nochmals herzlichen Dank, mein bester Schatz, für alle Deine Liebe und Geduld, die Du dabei bewiesen, und die mir Deine Abschriften aus Koelliker, Siebold, Zeitsche etc, Dein prächtiges Reisenecessäre, welches mir jeden Morgen unterwegs neue Freude gemacht hat, die Börse, die in Rom mein stetes Bajocchi-Gefängniß war, alle diese Zeichen Deiner reichen Liebe, hier jede Stunde vergegenwärtigen würde, wenn ich nicht ohnedies schon immer an Dich dächte und mir bei Allem, was ich hier denke und thue, sehe und genieße, Dein liebes Bild an die Seite riefe. Gewiß würde Neapel einen ganz andern, heiterern Eindruck machen, wenn ich Dich wenigstens stundenweis herzaubern könnte. – Samstag Nachmittag machte ich die Visiten bei den hiesigen Zoologen, an die mir namentlich der gute Martens warme Empfehlungen mit gegeben hatte. Leider waren sie alle auf 1-2 Wochen in die Campagna verreist und ich traf nur Capitaen Acton, einen sehr netten jungen Seeofficier (in neapolitanischen Diensten, aber englischer Abstammung), einen eifrigen Conchyliensammler und Naturfreund, der mir von großer Wichtigkeit zu werden scheint. Vorläufig hat er mich schon mit einem Fischer bekannt gemacht, der mir täglich Material bringen wird. Gestern hatte er den ganzen Vormittag (Sonntag 3. 4.) mit großem Interesse mit mir microscopirt bis um 3 Uhr. Den Rest des sehr schönen Tages benutzte ich zu einer Excursion auf einen der schönsten Aussichtspunkte der Stadt, das Kloster San Martino, unmittelbar unter dem Kastell Elmo. Den Rückweg nahm ich über die reizende Villa Belvedere und die an herrlichen Aussichten reiche Strada nuova di Maria Teresia. Heute, Montag, 4. 4. besorgte ich erst früh einiges für die Arbeitseinrichtung, namentlich einen großen Eimer für Seewasser. Dann benutzte ich das herrliche Wetter (da mir Material heute noch fehlte, zu einer wundervollen Excursion nach Camaldoli, einem Kloster auf dem höchsten Punkt der nächsten Umgegend, allgemein als „der schönste Punkt der civilisirten Welt“ gepriesen. Wenn dies auch übertrieben ist, so ist jedenfalls nicht zu stark übertrieben und Camaldoli bleibt einer der allerreizendsten Orte. Das Nähere darüber nächstens. Heut fehlt der Raum. Dieser Brief wird Dich nun wohl schon in dem lieben Berlin wieder treffen; grüß mir recht Dein liebes Zimmerchen, unsern kleinen Tempel und alle die lieben Orte, an denen wir zusammen so viel Glück genossen haben. Nun wirst Du auch nicht mehr nöthig haben, mein confuses Briefgeschreibsel immer für die Alten zu copiren, an die ich diesen Brief noch sende. Adresse: Santa Lucia 21, II. piano, In casa di Filippi. ||
Napoli, 4. 4. 59.
Da morgen früh das directe Schiff nach Marseille geht, habe ich den Brief bis heute Abend liegen lassen, in der sicheren Hoffnung, heute wenigstens nicht vergeblich meine tägliche Wanderung in die Apotheke nach einem Briefe anzutreten. Und wirklich habe ich mich denn auch heute nicht getäuscht und bin durch den ersten lieben Gruß aus der fernen Heimath in dem fremden großen Neapel durch mein herziges Liebchen freudigst überrascht worden. Hab tausend Dank, Du bester, süßer Schatz, für Deinen lieben, lieben Brief, der mir in jeder Zeile die reiche, volle Liebe meines prächtigen Mädchens ausspricht, die mich so glücklich und reich macht. Daß Du Dich durch die Nachricht der dummen Tante Voß über den vor Rom ermordeten Engländer so hast in Schrecken setzen lassen, ist mir sehr leid; wie sollte ich Dir aber darüber böse sein, mein liebstes Herz? Ich weiß ja selbst nur zu gut, wie das Herz, das so innig am Liebsten hängt, immer auch leicht zu viel für ihn fürchtet. So sehr grundlos ist übrigens die Furcht auch nicht gewesen, da jetzt wieder die Raub- und Mord-Anfälle im Kirchenstaat häufiger geworden sind. Erst nachträglich habe ich erfahren, daß es ein großes Wagniß war, in der Nacht allein und unbewaffnet nach dem Colosseum zu gehen und die in Rom erfahrenen Leute haben sehr meinen Leichtsinn darüber gescholten. Ich war noch ein zweites Mal allein beim Vollmond dort (übrigens nicht so schön und klar, wie das erste Mal) und hörte schon, als ich vom Capitol nach dem Forum herabstieg, von ferne ein lautes Jammern und Hülferufen die Todtenstille der Nacht unterbrechen und als ich näher kam, begegnete mir ein französischer Soldat, dem soeben ein Italiener heimtückischerweise den 2ten und 3ten Finger der rechten Hand abgehauen hatte, wahrscheinlich aus Rache. Hier in Neapel braucht man so etwas nicht zu fürchten. Die Neapolitaner haben schon gar nicht den Muth die Kraft und Energie dazu, wie die Römer. Sie sind feige, und nur mit der Zunge verstehen sie zu prahlen und großzuthun, als wären sie die größten Helden. Die weiteren Excursionen mache ich auch nie ohne meine beiden großen Dolchmesser und ohne den trefflichen geologischen Stock, vor dessen Hammer sie hier entsetzlichen Respect haben, wie sie denn überhaupt die Gestalt des wandernden „giovinotto grande biondo Tedesco“ immer mit gebührendem Erstaunen ansehen, besonders wenn ich noch dazu die Alpenschuhe anhabe. Sehr oft, wenn ich über die Straße gehe, höre ich aus einem beliebigen Hause heraus den Ruf: „Tedesco!“ Übrigens sind auch hier alle Straßen und Wege ungleich belebter und bevölkerter als in Rom, so daß ihr in dieser Beziehung nicht die geringste Angst zu haben braucht. Bitte, lieber Schatz, verbanne all die quälenden unnützen Sorgen.
a irrtüml.: zu