Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Anna Sethe, Neapel, 29. Mai 1859

Neapel, 29.5.59.

Wieder ist der Montag da, mein lieber Herzensschatz, für mich der beste Tag in der Woche, weil ich da weiß, daß ich durch einen directen Gruß von meiner liebsten, besten Seele überrascht werde, worauf ich mich immer schon den ganzen Tag über so freue, daß die unruhigen Gedanken gar oft von der Arbeit fortfliegen. So war ich denn auch heut Abend nicht vergeblich nach der Apotheke gewandert, aus der mir der lustige freundliche Herr Berncastel schon [von] weitem das Couvert entgegen hielt und zurief: „von der Anna!“ Wie ich da hinflog und wie ich mich wieder gefreut habe über Deine lieben, herzigen Gedanken, die Du treue Seele mir so ganz mittheilst. Hab tausend Dank, liebster Schatz, daß Du mir so ausführlich und treu alles mittheilst, was in Deiner für alles Wahre, Gute und Schöne so empfänglichen und reichen Seele vorgeht. Wie köstlich ist das, wenn 2 Seelen sich so ganz kennen und verstehn, so innig sich durchdrungen haben und ineinander aufgehen, wie die unsrigen. Wie lieb bist Du heut wieder, daß Du in Deinem Brief, meine Änni, so ganz auf meine Fehler und Schwächen eingehst und sie durch Deinen liebevollen ermunternden Zuspruch zu mindern und zu verscheuchen suchst. Leider thut das wieder recht noth; denn wieder ist eine Woche vergangen, in der ich trotz hartnäckig fortgesetzter Arbeit fast Nichts zu Stande gebracht habe. Ja der Kleinmuth und die Hoffnungslosigkeit waren in den letzten Tagen so gewachsen, daß ich fast ganz die Hände hätte sinken lassen und wieder trostlosem Weltschmerz mich hingegeben. Da kommen denn die ermuthigenden Worte aus Deiner muntern, frischen Seele grade zurecht, um die ermattenden Gedanken wieder zu stärken und die erschlaffenden Hände zu neuer, frischer Thätigkeit anzuspornen. Im Ganzen beurtheilst Du die Gründe und Ursachen meiner Muthlosigkeit ganz richtig, wie ich dies auch selbst erkenne, ohne doch ernstlich dagegen aufkommen zu können. Selten hat es gewiß einen Menschen gegeben, in dem Wollen und Können in so schlechtem Verhältniß standen wie bei mir. Ich will das Gute aus aller Kraft meiner Seele; klar sehe ich das Ziel vor mir liegen, dem ich nachstrebe − und doch glaube ich fast, daß jeder Schritt dazu mich eher davon entfernt als nähert. Hätte ich doch lieber nie dieses höhere Ziel erkannt, wäre es mir lieber ganz dunkel geblieben, und irrte ich lieber blind in der Finsterniß umher, wie der größte Theil der übrigen Menschen, als daß ich es jetzt, es klar und scharf vor mir sehe, mit der Gewißheit, es nie zu erreichen, mit der Unmöglichkeit, mich ihm auch nur wesentlich zu nähern. Je mehr ich hierin mich selbst zu erkennen, meinen Kräften die angemessene Richtung zu geben trachte, desto weniger komme ich darüber ins Klare, desto weniger scheinen mir die disponiblen Kräfte dem erhabnen Ziel angemessen. || „Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust, die eine will sich von der andern trennen!“ Welch schrecklicher Dualismus zwischen dem Ideal, zu dem unsere strebende Seele sich zu erheben fähig ist, und der trostlosen, vernichtenden Wirklichkeit, in deren Staub wir zu kriechen verdammt sind. Ich weiß, Du verstehst mich, liebster Schatz, wenn ich mich auch falsch und plump ausdrücke, fehlt mir ja doch die Form überall und weiß der Inhalt nicht mit sich selbst zu bleiben. Auch dies ist ein großer Fehler von mir, auf den ich mir aber eher etwas einbilde, als daß ich ihn bedaure. Ich mußa es hier jetzt oft von den näher stehenden Bekannten (wie schon früher so oft als Student) hören: Wie schade um den netten jungen Menschen; „wenn er doch etwas auf sich hielte, wenn er doch sein Äußres, seine Form cultivirte, wenn er doch b Etwas repräsentirte!“ Wenn ich so etwas höre, so höre ich auch immer etwas von mephistophelischem Hohngelächter in meiner Seele, ja, dann fange ich an, mich etwas zu fühlen; denn dann verstehe ich wohl und fühle es tief, daß ich in meinem Innern etwas besitze, eine Fülle und Tiefe gewisser Ideen, von denen eben die hohlen Alltagsköpfe sich nicht träumen lassen, und in diesem Reichthum könnte ich mich, indem ich ihn mit Dir theile, die Du ihn würdigst und verstehst, ich könnte mich darin glücklich fühlen und zur Zufriedenheit zu gelangen hoffen, wenn da nicht schon im Hintergrund wieder der rastlose Daemon lauerte, der mich nie ruhen ließe und immer mit gieriger, Wilder Hast nach dem Ziel der Wahrheit weiter triebe. Einen Trost giebt es da freilich noch, aber einen schlechten, es ist der, daß alle Geister, die mit aufrichtigem Streben in die geheime Tiefe der Natur der Dinge einzudringen trachteten, diesem bösen Geist zum Opfer fielen, daß niemals die entschleierte Wahrheit ihren heißen Drang befriedigte. Da schwebt mir immer das Bild meines erhabensten Lehrers und Meisters, Johannes Müller, vor. Hat ihn nicht dieser tiefe Zwiespalt der Seele, dieser unselige Dualismus zwischen Wollen und Können, Ziel und Kraft, Ahnen und Erkennen, dieses ewig unbefriedigte und doch ewig brennende Feuer der Sehnsucht nach dem Bild der Wahrheit, hat dieses ihm nicht die düstern Falten der Schwermuth in die göttliche Jupiterstirn gegraben, die keiner, auch der reinste Lebensgenuß, keine Freude, auch die größte, die des Schaffens und Erkennens, ganz zu glätten und zur Befriedigung zu kehren vermochte? Gewißc ich könnte mich mit diesen und allen andern Geistern trösten, die im beständigen Streben nach dem Schauen der göttlichen Wahrheit doch nie dazu gelangt sind, ich könnte eben in diesem Streben meine Befriedigung finden, wenn nur meine Leistungen innerhalb dieser nun einmal unübersteiglichen Gränzen einigermaßen befriedigend wären und nicht allzusehr mit dem guten Willen im Mißverhältnis stünden! || Darin liegt aber eben der Hauptgrund dieses trostlosen Kleinmuthes, daß die factische Leistung so sehr weit hinter diesem Streben zurückbleibt. 2 Monate sitze ich nun schon hier, und was hab ich trotz der dauernden angestrengten Arbeit zustande gebracht, trotz der Selbstüberwindung, mit der ich hier im Garten Europas, wo die reizende Natur zum vollen hingebenden Genuß einladet, mich streng an mein Specialstudium gefesselt habe, trotz der Geduld, mit der ich so vieles, vieles ganz vergeblich gethan und verfolgt habe? Nichts was der Rede werth ist. Meine Freunde machten es mir immer zum Vorwurf, daß ich mich zu sehr zersplitterte, daß ich im Streben, das Naturganze zu erfassen, zu sehr über das Einzelne, das doch erst die Steine zum Aufbau des Ganzen lieferte, hinweg springe. Dieser Vorwurf war gerechtfertigt und ich habe mich deshalb in diesen 2 Monaten möglichst concentrirt, habe die lockenden Versuchungen, welche mir die lachende, reizende, überreiche Flora und Fauna des Meers und Landes bereiteten, überwunden und mich streng an ein Einzelstudium gefesselt. Aber wie wenig bin ich dafür belohnt, oder vielmehr, wie sehr habe ich da wieder zu viel gehofft! Ich nahm ein Thema, was bisher so gut wie unbekannt war und das große Ausbeute versprach, die feinere microscopische Anatomie der Echinodermen, die allerdings nach Johannes Muellers eigenem Ausspruch, dessen Lieblingsfeld es war, zu den schwierigsten Gegenständen gehört. Ich habe mit allen Vorkenntnissen und Hilfsmitteln, die der jetzige Stand der Wissenschaft für diesen Gegenstand bietet, ihn angegriffen, mit aller mir möglichen Ausdauer ihn verfolgt, aber was habe ich wesentlich damit erreicht? Ich weiß nun, warum man bisher noch nichts davon wußte, ich habe einen Blick gethan in die überreiche Quelle von Irrthümern, die hier überall dem Beobachter geöffnet ist. Allerdings glaube ich Einiges neue, ja recht merkwürdige gefunden zu haben, aber dies ist wieder so abweichend von dem Bekannten, daß ich meinen eignen Beobachtungen nicht traue und schon mehr als einmal im Begriff war, die ganze Arbeit ins Feuer zu werfen. Je tiefer man in diese tiefsten Naturgeheimnisse eindringt, deren Wesen bisher noch kein Sterblicher entschleiert hat, desto tiefer überzeugt man sich von der Unzuglänglichkeit des Geistes, sie ganz zu fassen, ja, schon von der Schwäche der nöthigsten Hilfsmittel sich ihnen zu nähern. Zuletzt wagt man kaum noch, die gesehenen Bilder zu deuten und auszulegen, so fein, so verwickelt, so in seinen letzten und feinsten Gründen unfaßbar wird Alles. || „Ja wer noch hoffen mag, aus diesem Meer des Irrthums aufzutauchen!“ Man möchte zuletzt dazu kommen, gar keinen bestimmten Ausspruch mehr zu wagen, so unendlich groß ist überall die Möglichkeit tiefen Irrthums, wo wir selbst über die einfachste Thatsache uns auf das Zeugniß unserer Sinne verlassen zu dürfen glauben. Ja, ich möchte dabei fast den Muth verlieren, überhaupt Naturforscher zu sein! Und da soll der Glaube dann aushelfen! Du weißt, wie ich zum Glaube stehe, liebstes Herz, und schreibst gewiß nicht mit Unrecht dem Mangel desselben einen großen Theil dieser Unbefriedigung, dieses trostlosen Zweifels zu. Aber wenn ich auch noch 10mal unglücklicher dadurch würde, ich könnte mich doch nimmermehr zur Annahme eines willkührlichen Dogma entschließen. Gewiß war das frühere Stadium, wo ich mit voller und kindlicher Überzeugung dem christlichen Glauben anhing, ein unbedingt viel glücklichers! Aber soll man deßhalb auf Erkenntniß der Wahrheit d verzichten, weil sie unglücklich macht? Nimmermehr! Man denke nur an das verschleierte Bild von Sais! Ich würde e in jedem Falle den Schleier lüften, auch wenn ich mein trauriges Schicksal voraus wüßte. Die Früchte vom Baume der Erkenntniß sind es immer werth, daß man um ihretwillen das Paradies verliert! Also nur immer fortgefahren und mit eiserner Consequenz an die letzten Pforten der Erkenntniß vorgedrungen! Du siehst liebster Schatz, ich kann Dir keine Wahrheit verbergen, mag sie auch noch so hart und bitter klingen. Du kennst mich einmal und weißt, daß Du mich ganz und ungetheilt besitzest und so nehmen mußt, wie die Nothwendigkeit der Verhältnisse mich schaffte. Ich habe Dich ja eben darum auch so unendlich lieb und will Dir von Deinen Überzeugungen und Ideen auch nicht das Geringste nehmen! Vielleicht wirst Du durch die großen Mängel, die Du da mit mir bekömmst, einigermaßen durch einige andere Seiten meiner Person entschädigt, auf die ich jetzt bei öfterer Selbstbetrachtung und Vergleichung mit andern aufmerksamer geworden bin, als ich es früher war. Es ist das die strenge Sittlichkeit im praktischen Leben, auf die eigentlich insofern kein Gewicht gelegt werden sollte, als sie sich vonf selbst verstehen sollte. Leider habe ich aber bei dem ungleich weitern Gesichtskreis, den mir diese Reise öffnet, gesehen, daß in der sogenannten feinen gebildeten Gesellschaft eher das Gegentheil als selbstverständlich betrachtet wird. Da kann ich denn meinen trefflichen Eltern nicht dankbar genug sein, daß sie von Kindauf an mit so eiserner Strenge im Punkte der Moral mich rein und unbefleckt zu erhalten gesucht haben, daß wenigstens in diesem einen Punkte mein ganzes Leben eine feste Richtschnur hat. ||

Leider ist der beschränkte Raum schon wieder zu Ende mein liebster Schatz. Ich hätte Dir noch so viel zu sagen, aber freilich viel mehr, als auch der Raum eines doppelten Briefes aufnehmen würde. Und dann ist die Feder doch immer ein so plumpes, unbeholfnes Ding, das die Gedanken nur halb wiedergiebt. Die Beschreibung Deines Freienwalder Lebens und der schönen Spaziergänge hat mich sehr interessirt; fahre nur so fort. Wie gern begleitete ich Dich einmal und wollte dafür gern auf alle Neapolitanische Natur verzichten. Wie werde ich mich nach der Rückkehr || wieder über Deutsche Wälder und Wiesen freuen. Sind das nicht wahre Paradiese, wenn ich sie mit Dir zusammen durchwandre. Mit welcher Freude schreibe ich heute den letzten Mai; da ist ja schon ein volles Drittheil der schweren Trennungszeit überstanden und hoffentlich das schwerste, wenngleich mir die Sehnsucht mit der Zeit eher zu- als abzunehmen scheint und ich mich an das Alleingenießen der Natur durchaus nicht wieder gewöhnen kann. Ich genieße alles ohne Dich nur mit halbem Sinn. Heut noch ein herziger Kuß von Deinem treuen

Erni. ||

[Adresse]

Herrn Oberregierungsrath Haeckel. | Wilhelmsstr. 73. | Berlino | (Prusse). | vapore diritto. Marsiglia. | via de mare.

a gestr.: hier; eingef.: muß; b gestr.: Etwas seine; c Textverlust durch Ausriss, sinngemäß ergänzt; d gestr.: des; e gestr.: ich; f eingef.: von

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
29.05.1859
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 47468
ID
47468