Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Charlotte und Carl Gottlob Haeckel, Rom, 5. März 1859

Rom 5.3.59.

Liebe Eltern!

Durch beifolgenden Brief an Anna werdet ihr erfahren, daß ich nun auch euern am 23.2. abgeschickten Brief endlich richtig erhalten habe und zwar heute erst, zugleich mit 3 Briefen von Anna von den verschiedensten Daten. Alle haben schon mehrere Tage hier gelegen, ohne daß ich sie, trotz täglicher Nachfrage, erhalten konnte. Daß das jetzt meine größte Freude war, nachdem ich so lange ohne weitere Nachricht von euch Lieben gewesen, könnt ihr euch denken. Über die Nachricht von der Geburt eines dritten Neffen habe ich mich recht gefreut; schreibt mir nur bald, wie es dort geht. Ich habe hier nun schon 14 Tage zugebracht und möglichst benutzt, um mir einen vollständigen Überblick über alle die ungeheuren Massen der herrlichsten Kunstschätze und der interessantesten historischen Merkwürdigkeiten dieser einzigen Stadt zu gewinnen. Bei den letztern habe ich namentlich oft an Dich gedacht, liebster Vater, und Dich recht herbei gewünscht, um das mitzugenießen. Dieses Neben- und Durcheinander der verschiedensten Zeiträume und Völkergeschichten ist ganz einzig und würde Dich im höchsten Grade interessiren. || Mich zieht vor Allem das klassische Alterthum an, dessen herrlichste Kunsteerzeugnisse, sowohl aus Griechenland als Rom, hier massenweis aufgestapelt sind. Auch von den großartigen Leistungen der römischen Kaiserzeit bekommt man, trotz ihrer Verdorbenheit, einen gewaltigen Respect. Dagegen kann ich mich mit dem Mittelalter und seiner christlichen resp. päpstlichen Barbarei hier gar nicht befreunden und noch abschreckender womöglich erscheint die Gegenwart. Die nächsten 14 Tage, die mir für Rom noch übrig sind, werde ich nun benutzen, um mir das Schönste und Beste, nämlich die antiken Statuensammlungen und die Bauwerke aus der Kaiserzeit, recht gründlich und con amore anzusehen. Dann werde ich vielleicht noch ein paar Tage ins Gebirge gehen und etwa den 25sten nach Neapel fahren (wieder zur See, über Civita vecchia). Daß ich noch einen zweiten Monat hier bleiben und auch das Osterfest hier sehen würde, wozu die Versuchung allerdings sehr groß ist, glaube ich doch nicht, da ich anderseits zu große Sehnsucht nach Neapel, nach dem Meer und nach Arbeit habe. Die hiesigen Antikensammlungen im Vatikan und Capitol sind aber allerdings dazu gemacht, einen monatelang zu fesseln. Näheres darüber im nächsten Brief.

Euer Ernst.

[Nachschrift]

Da wir von 9–6 Uhr den ganzen Tag über auf den Beinen sind, so fällt in unserer Hauptmahlzeit, um 6 Uhr Abend- und Mittagessen zusammen. Das schmeckt dann nach den Anstrengungen des Tages ganz vortrefflich. Unser Speisehaus, Lepre, liegt ebenfalls in der Via Condotti, unweit des Spanischen Platzes. Unsere gewöhnliche Kost ist: 1. Eine tüchtige Schüssel Macaroni, 2. Majale agrodolce geschmortes Schweinefleisch in einer braunen Sauce, mit Pinienkernen und Südfrüchten schmackhaft zubereitet, echt römisch, 3. Marenghe con Crema: 2 kleine Eierpastetchen. Meist sitzen wir plaudernd dort bis 8 Uhr zusammen. Dann gehen Diruff und ich oft noch zu Dr. Kunde, der auch am spanischen Platze wohnt. Oder ich gehe gleich nach Haus und schreibe noch etwas Tagebuch. Meist bin ich jedoch so müde, daß ich bald nolens volens einschlafe, wobei mir dann oft mein herziger Schatz im Traum erscheint und mir die schönsten Grüße aus dem lieben Norden bringt, dessen tiefen inneren Werth man hier im Süden erst recht begreifen und schätzen lernt. In dieser Art verfließt uns der Tag sehr gleichmäßig angenehm. Andere Bekanntschaften habe ich noch wenig gemacht, obwohl ich dazu viel Gelegenheit mündlich, namentlich mit Künstlern anzuknüpfen. Einer derselben wollte mich neulich als Prototypus echter alter deutscher Race portraitiren, und wenn ein anderer Neuer in die Gesellschaft hinzukömmt, werde ich immer als „Urdeutscher“ vorgestellt. Ich habe sogar den Beinamen des „Nibelungen“ bekommen, da einer der Genremaler behauptet, daß ich jedem „Nibelungenmaler“ als Modell sitzen müßte. Und in mancher Beziehung bin ich jetzt wirklich stolz auf meinen deutschen Charakter, der dem italienischen wie Tag und Nacht gegenüber steht. Freilich haben wir nicht das, was den Italienern am höchsten steht: die „gentilezza“, die feine, schmiegsame Gewandtheit, mit der er sich in alles findet und die verwickeltsten Verhältnisse zu lösen versteht. Aber da ich diese, wie alle äußere Polirtheit ohne inneren Gehalt nicht zu würdigen verstehe, so ist es für mich ganz recht, daß ich sie nicht besitze und dafür mit meiner deutschen (oder „nibelungischen“) Ungefügigkeit und unbeholfenen Kraft gleichzeitig einen festen moralische Grund und eine alles Äußere aufwiegende Liebe zur Natur, d. h. zum Wahren, Schönen und Guten, im höchsten Maaße besitze. Man muß die Deutschen nach Italien schicken, damit sie ihre Nation achten lernen. ||

Du schriebst mir in Deinem letzten Brief, lieber Vater, daß ich Dir etwas von dem Befinden des jungen Hirzel schreiben sollte. Ich fand ihn allerdings sehr elend. Doch hat ihn auf meine Bitte der Dr. Diruf dieser Tage untersucht und meint, daß er, wenn er noch 1½–2 Jahr im warmen Klima blieb, er wohl ziemlich wieder gesund werden könnte. Er hat ihm sehr gerathen, den Sommer nach Neapel zu gehena, welches nach allen neuern Erfahrungen und den genauesten Beobachtungen ein viel vortheilhafters Klima für Brustkranke hat, als Rom, wo die enormen Temperaturwechsel, von denen ich mich selbst überzeugt habe, nur nachtheilig auf die ganze Gesundheit wirken können. Ich meinerseits möchte Hirzels Zustand für sehr bedenklich halten, da die Anlage für Tuberkulose bei ihm erblich ist und er im höchsten Grad physisch gebrannt ist. Der arme unglückliche Mensch dauert mich recht und unwillkührlich wird man beim Anblick solchen elenden Körpers in den besten Jugendjahren zum Vergleich mit der guten Lage getrieben, in der man sich selbst mit seinem gesunden Cadaver befindet. Ich lerne das letztere Glück hier wieder recht schätzen; bei dem beständigen Marschiren und Umherlaufen in der sehr weitläufigen Stadt kommen mir meine nibelungischen Beine sehr zu statten und wenn ich dann die verkümmerten Römer der Jetztzeit sehe, namentlich die abgelebten und jämmerlichen Gestalten der jungen Leute aus den höheren Ständen (durchschnittlich sind sie kleiner und häßlicher als die Frauen, während es auf dem Land umgekehrt ist), so kann der Vergleich mit dem eigenen Status nur vortheilhaft ausfallen. Auch meine Begleiter sind sehr gut zu Fuß und daß wir hier auch die weiten Wege alle zu Fuß abmachen, fällt sehr auf, da die Leute hier gewohnt sind fast immer zu fahren. Weitere Ausflüge haben wir erst einen gemacht, nämlich vorgestern nach Tivoli mit seinen weltberühmten Wasserfällen und zahlreichen andern Naturschönheiten, die meinem Geschmack nach jedoch immer hinter der Alpenwelt, die ich über alles stelle, zurück stehen. Dabei fuhren wir 4 Stunden durch die Campagna, eine wahre Wüste, ohne alle Cultur, ohne Gebäude und Menschen. Den Mangel der schönen nordischen Laubwälder und grünen Wiesen empfinde ich hier doch sehr. Überhaupt lernt man alle die vielen Vorzüge unserer lieben nordischen Heimath hier erst in ihrem ganzen Umfang schätzen, und wenn ich auch dies Jahr mit großem Interesse Italien kennen lernen werde, so möchte ich doch nie für immer darin verweilen. – Herzliche Grüße an alle Freunde und Verwandte und den besten euch selbst, liebe Alten,

euer Ernst.

N. B. Wenn ihr die Briefe frankirt, müßt ihr am besten ganz bis Rom frankiren. –

a eingef.: zu gehen

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
05.03.1859
Entstehungsort
Rom
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 47461
ID
47461