Marburg 18. XI. 95.
Geliebter und verehrter Freund!
Ihre liebe, gute Karte hat mich zwar noch lange nicht befriedigt, aber doch beruhigt; denn längstens im nächsten Sommer seh’ ich Sie wieder munter durch die Welt wandern. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht Ihrer gedenke. Und wie oft red’ ich von Ihnen mit meinen Kindern, die Ihre lieben Grüße herzlich erwiedern [!].
Mir geht es etwas besser, ich leide weniger u. die Nächte || sind durchschnittlich gut, was sehr viel heißt. Das Auge bessert sich, aber so langsam, daß ich vielleicht noch arbeitsfähig würde, wenn ich 20 Jahr jünger wäre. Darum geb’ ich die Hoffnung nicht auf; aber ich steh’ nicht darauf an. Ich habe mich derart in meine jetzige Lage hinein gelebt, daß ich dabei ganz heiter bin.
Mein Dante-Fragment ist unter der Presse u. mein Schwiegersohn unterstützt mich beim Corrigiren. Es ist wohl ein sehr kleines || Ding, vier kleine Bogen, aber es wird Sie freuen. Die Qualen, unter denen es entstanden ist, ahnt niemand. Gewidmet ist es Marie Eugenie delle Grazie, als der Schöpferin des modernen Epos. Was ich noch kann, thu’ ich für sie.
Ich kann mir’s so leicht vorstellen, daß Sie theils kaum die Zeit finden, theils überhaupt schwer dran geh’n, ein Epos zu besprechen; aber die Hoffnung geb’ ich doch noch nicht ganz auf, noch viel weniger, als bei meinem Auge. Viel- || leicht interessirt Sie die mitfolgende Besprechung. Durch das Organ, das sie aufgenommen hat, ist sie besonders merkwürdig. Das Überwältigende an dem Gedicht liegt darin, daß der Autor nach keiner Richtung Partei ergreift: es ist rein die Weltgeschichte selbst, die sich erzählt. Noch einige Worte von Ihnen und die zweite Auflage ist gesichert.
Nicht ungeduldig werden und immer gleich lieb haben
Ihren
Carneri
Die Norddeutsche nicht zurückschicken!