Bartholomäus von Carneri an Ernst Haeckel, Marburg an der Drau, 16. Juni 1892

Marburg 16. Juni 1892.

Geliebter und verehrter Freund!

Die Antwort auf Ihren lieben, guten Brief vom 9. Dieses, durch die Sie erst wieder in Briefschuld versetzt werden, erhalten Sie nicht vor halben Juli, um welche Zeit wir – wie ein Kind freue ich mich darauf – die Möglichkeit eines Wiedersehens verabreden werden. Dieses hier ist kein Brief, es ist nur ein Gruß mit einigen Mittheilungen, die Sie interessieren werden.

Ich weiß nicht, ob ich Ihnen mitgetheilt habe, daß die Adoptivmutter meines Schwiegersohnes seit bald einem Jahr von einer inoperabeln Neubildung im Unterleib leidet. Kürzlich ist deren Mann, den Sie in Wien bei meinen Kindern gesehen haben, vor den Augen der Schwerkranken, ohne alles vorhergehende Leiden, an Herzschlag todt zusammengestürzt. Die Kranke erheischt eine außergewöhnliche Pflege, und da mein Schwiegersohn es nicht über’s Herz gebracht hätte, diese || Pflege seiner Frau allein zu überlassen, so hat er den Dienst aufgegeben. Zu zweit tragen sie die Last leicht, und soeben erhalte ich Brief von den Ufern des Wörthersees mit den herzlichsten Grüßen an Sie. Es geht den Umständen angemessen.

Und nun eine gute Nachricht. Ihr Wunsch ist in Erfüllung gegangen. Es geht mir wieder besser. Mein Wille dazu wäre ganz genügend gewesen; dennoch möchte ich nicht ihm das günstige Resultat zuschreiben, weil es mir an diesem Willen nie gemangelt hat. Ich denke, die Empfindlichkeit der neu in Mitleidenschaft gezogenen Muskeln hat sich abgestumpft und ich habe mich an die Veränderung gewöhnt; kurz: ich leide viel weniger. Auch möchte ich meine Methode allen empfehlen. Meine dummen Zustände dauern 32 Jahre, und ich bin überzeugt, daß ich längst begraben wäre, wenn ich, um den Schmerz zu mildern, alle erdenklichen Mittel versucht hätte. Die Muskelkrämpfe habe ich, bin aber im Übrigen so gesund, daß ich mit keinem andern mir bekannten Siebziger tauschen würde. Sie werden mich auch kaum gealtert finden und mit mir zufrieden sein.

Daß Ihrer verehrten Frau der Aufenthalt im Süden so gut angeschlagen hat, freut mich, || wie weniges mich freuen könnte. Möchten Sie nur recht lange die Gesellschaft Ihrer Tochter genießen können, die, wie ich es aus allem ersehe, im schönsten Sinne belebend auf ihre Umgebung wirkt. Ich bilde mir ein, daß sie im Wesen einige Ähnlichkeit mit meiner Fritzi haben müsste. Mein Leben in Wildhaus, als ich das Kind noch bei mir hatte, war auch der reine Sonnenschein. Ich bin jetzt ganz allein, habe auch hier weder einen Freund noch eine Freundin; aber ich lebe eigentlich nicht in Marburg, sondern in meinen Arbeiten und einer lebhaften Correspondenz, die meine halbe Zeit in Anspruch nimmt. Dazu giebt mir Marburg eine gesunde Luft und mehr brauche ich nicht. Anstatt des directen Sonnenlichts erfreue ich mich des indirecten Lichts einiger Monde; allein dabei läßt sich’s ganz behaglich leben. Manche finden darin Philosophie. Ich bin aber dieser Ansicht nicht. Ich fände in meiner Zufriedenheit Philosophie, wenn sich’s um eine Errungenschaft handelte, die ich dem Nachdenken verdanke. Das wäre aber eine Überwindung, und diese stelle ich mir als schmerzlich vor. Ich leide nicht im Geringsten darunter, bedarf auch thatsächlich keiner Überwindung; ich kann nicht anders. Anstatt für einen Philosophen würde ich mich einfach für einen Viechkerl (das ch müssen Sie dem Österreicher nachsehen) halten, wenn ich dabei den Sinn für das directe Licht einbüßen würde. Das ist aber nicht der Fall. Kindisch freue ich mich darauf, im || Winter die Kinder hier zu haben, und von halben August bis halben September vier Wochen bei ihnen am Wörthersee zu verbringen. Sie werden fragen, warum ich nicht jetzt schon dort bin? Das geht wegen meiner Muskelschmerzen nicht. Ich vertrage nicht auf die Länge das Herumlungern, weil ich da zum Bewußtsein meiner Miserabilität komme. Ich kann ja nicht den kleinsten Spaziergang machen. Hier habe ich einen zehnstündigen Arbeitstag, und versenke ich mich in meine Beschäftigungen, so vergesse ich meinen Leiden vollständig, falle todtmüde in’s Bett, schlafe meine sieben Stunden in Einem Stück und erwache mit erneuter Arbeitsfreude. Um herumlungern zu können, müßte ich wirklich ein Philosoph sein.

Über den modernsten Antidarwinismus werden wir mündlich eingehend reden. Ich habe da so viel auf dem Herzen! Was Sie von dem Einen Ihrer Schüler erzählen ist die reine Infamie. Allein die Sache hängt mit der allgemeinen Reaction zusammen, die schon seit Jahren im Zug ist und bald ihren Höhepunkt erreicht haben wird. Sie erleben noch bessere Zustände, denn diea Zeit geht rascher als „vor Zeiten“. Ich erlebe das nicht mehr, aber ich schätze mich glücklich, eine herrliche Zeit allgemeines Aufschwungs mitgemacht zu haben. Für das mannhafte Wort, daß Sie nicht zum Misanthropen werden, drücke ich Ihnen die Hand wie für das liebe Wort über die ungarischen Lieder. Bleiben Sie mir immer so gut! Sie gehören zu den stolzesten Säulen meines Glücks. Für’s Leben Ihr treuergebener

B. Carneri

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Brief Metadaten

ID
4668
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsland aktuell
Slowenien
Entstehungsland zeitgenössisch
Österreich Ungarn
Datierung
16.06.1892
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
14,3 x 22,6 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 4668
Zitiervorlage
Carneri, Bartholomäus von an Haeckel, Ernst; Marburg an der Drau (Maribor); 16.06.1892; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_4668