Carneri, Bartholomäus von

Bartholomäus von Carneri an Ernst Haeckel, Marburg an der Drau, 31. Dezember 1889

Marburg 31. Dez. 1889.

Geliebter und verehrter Freund!

Tausend Dank für Ihre lieben Glückwünsche, welche von mir und meinen Kindern, die jetzt hier sind und in ein paar Tagen nach Wien zurückkehren, herzlichst erwiedert [!] werden. Ich folge Ihnen in ungefähr drei Wochen, um dann wahrscheinlich bis Ende Mai dort zu bleiben. Bisher hat uns die Influenza, die übrigens auch hier grassirt, verschont. Das Merkwürdigste an dem Übel ist, daß es ein altbewährtes Sprichwort Lügen straft. Die eigentliche epidemische Grippe vom Jahre 1833, an die ich mich genau zu erinnern weiß, war viel schlimmer. Seither heißt alles so, wie man gar vieles Diphteritis nennt. Ich habe das damalige Übel mit all den Meinen durchgemacht, und mancher brauchte ein || halbes Jahr, um sich zu erholen. Das jetzige ist eine heftige katarrhalische Affection, die meist auch über die Schleimhäute des Magens sich erstreckt, aber bei einiger Vor- und Rücksicht von ganz kurzer Dauer ist. Für gewöhnlich würde der davon Befallene sich gar nichts draus machen, und was heute den Meisten imponirt, ist das massenhafte Auftreten. Was wird da aus dem bekannten: Juvat socios habere doloris? Für die Ärzte ist das ein Goldregen. Sie erkranken zwar auch; aber in ein paar Tagen beuteln sie die Geschichte ab, und haben Patienten, daß sie sich nicht aus wissen.

Mein Buch liegt, wohl verpackt, noch dort, wo es lag, als ich Ihnen über meinen Mißerfolg bei Brockhaus berichtete. Ich habe es für anständig gehalten, mich noch einmal bei Schweizerbart anzufragen, weil ich ihm geschrieben hatte, nur der Inter-||nationalen wissenschaftlichen Bibliothek [wegen] ihm untreu zu werden, und habe bis heute noch keine Antwort. Vielleicht ist diese, vielleicht gar schon mein Brief verloren gegangen. Aber das geschieht zu selten, und da ich ihm geschrieben habe, die Sache habe keine Eile, so denke ich einfach, daß er sich Zeit läßt.

Mittlerweile ist in mir ein, wie ich meine, ganz gescheuter Plan gereift: nach Schluß des Reichsraths – da habe ich 4–5 Monate vollster Ruhe vor mir – das Buch recht gründlich durchzugehen. Ich hätte dazu vielleicht auch jetzt genügend Zeit gehabt. Allein drei Tage vor meiner Abreise nach Wien habe ich die Nachricht vom Tode meiner Schwiegermutter erhalten und die Folgen – nicht Geldgeschäfte, die mich in diesem Falle nichts angehen – sehr delicate Familien-Spannungen, in welchen zu vermitteln ich berufen bin, lassen mich zu keiner rechten Ruhe kommen. Schon einmal habe ich auf zwei Tage nach Graz müssen, und ich werde mich wohl || noch ein paar Mal dahin begeben, ehe ich nach Wien zurückkehre.

Vor zehn Jahren hätte mich eine solche Verzögerung unglücklich gemacht. Jetzt läßt mich das ganz kalt. Selbst der Gedanke, daß ich die Herausgabe dieses Buches nicht mehr erleben könnte, ist mir gleichgiltig. Es liegt vielleicht viel Eitelkeit darin, daß ich auf das, was dieses Buch den Menschen sein mag, ein so großes Gewicht lege, daß mir die Freude, welche mir dessen Erscheinen bereiten könnte, dagegen verschwindet. Der Gedanke, was in meiner Macht steht, aufzubieten, damit das Buch geeignet sei, seinen Zweck zu erfüllen, wiegt mir alles auf, und ich freue mich von Herzen auf den kommenden Sommer.

Und so finde ich in Ihren lieben Glückwünschen zum Anbeginn des letzten Decenniums unseres Jahrhunderts ein erfrischendes Wort für meine Aufgabe. Nochmals tausend Dank u. behalten Sie mich immer so lieb. Auf ein frohes Wiedersehen im kommenden Sommer, und aus ganzer Seele Ihr

Carneri

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
31.12.1889
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 4651
ID
4651