Hensen, Victor

Victor Hensen an Ernst Haeckel, Kiel, Juli 1870

An das

zoologische Institut zu Jena

Herrn Professor Haeckel

Anbei erlaube ich mir eine Photographie sowie ein mikroskopisches Präparat von in kali bichromicum erhärteten, Muskeln des Amphioxus lanceolatus zu übersenden. Dieselben sind dazu bestimmt die von mir in den „Arbeiten des Kieler physiologischen Instituts“ S. 1 und folgende beschriebene Mittelscheibe zu demonstriren. Da von verschiedenen Seiten meine Angaben angegriffen worden sind wünsche ich jedem, der sich ein wenig für die feinere Struktur quergestreifter Muskeln interessiert, die Gelegenheit zu bieten, das Bild des Muskels zu sehen wie ich es sehe und sich alsdann ein selbstständiges Urtheil zu bilden. Ich selbst halte an der von mir ausgesprochenen Ansicht nach wie vor fest.

Ich habe in den quergestreiften Muskelfasern neben der einfach brechenden Zwischensubstanz und der doppelt brechenden Substanz der Querscheibe eine dritte geformte und bestimmt angeordnete Substanz unter dem Namen „Mittelscheibe“ beschrieben, welche jede der Querscheiben (die stärker lichtbrechend und anisotrop sind) durchsetzt und dieselbe in zwei Hälften theilt.

Die Photographie zeigt dies Verhalten überall da wo das Präparat scharf eingestellt war, so, wie ich es beschrieben habe. An einer Stelle der Photographie ist die Zwischensubstanz z, die Mittelschei || be mit m, die Querscheibe mit g, bezeichnet worden. Der Rand des Präparats ist nicht scharf eingestellt gewesen, es traten hier Bilder auf, welche ich für Trugbilder halte und die, wie mir wenigstens scheinen will, den Stempel der schlechten Einstellung sehr deutlich tragena. Daß die Mittelscheibe nicht einfach eine optische Täuschung ist scheint mir noch besonders aus solchen Schnittstellen wie sie mit einem ! bezeichnet ist, hervorzugehen, hier geht die Substanz derselben völlig in den Rand der Querscheibe hinein so ! [Skizze], wäre sie eine Schattenbildung, so würde sie so! [Skizze] aufhören müssen, weil sie dann stets um eine gewisse Distanz von den, sie durch ihre Lichtbrechung erzeugenden Rändern der Querscheibe entfernt bleiben müßte.

Die Photographie ist von einer sehr dünnen Muskelscheibe genommen, die sich leider bei der Erhärtung ein wenig gefaltet hatte, woraus sich die übrigens nicht weiter störenden Knickungen im Verlauf der Querstreifen erklären.

Alle Verhältnisse, auf welche hingewiesen ward, werden an dem beifolgen Präparat in viel vollkommenerer Weise erkannt werden, wenn man starke Vergrößerungen anwendet und eine der feinsten Platten (die blaß sind und bei kleiner Vergrößerung noch keine Querstreifen zeigen) beobachtet. Man wird an diesen Präparaten die photographische Darstellung ohne Zweifel wiedererkennen können und sieht alsdann das Bild wie ich es sehe und für richtig eingestellt halte.

Die Untersuchung im polarisirten Licht führt an diesen erhärteten Platten zu keinem Resultat, jedoch kann ich die Versicherung wiederholen, daß die von mir als Querscheiben bezeichneten Theile die einzig doppelt brechenden im Muskel sind.

Zur Erklärung der Präparate bedarf es nur der Bemerkung, daß die Muskeln von Amphioxus keine Fasern und Stränge, sondern sehr breite und feine Platten sind, welche aufeinander geschichtet liegen nur von einer ganz geringen Flüssigkeitsmenge getrennt. Ich konnte keine Sarkolomma an ihnen nachweisen. Diese eigenthüm || liche Anordnung scheint mir mit der Annahme, daß die Muskelsubstanz flüssig sei vollständig unverträglich.

Die Präparate sind insofern nicht ganz nach meinem Wunsch ausgefallen, als die Amphioxusmuskeln schon zu lange in der Erhärtungsflüssigkeit gelegen hatten und daher brüchig geworden, sich nicht mehr glatt ausbreiten ließen. Das sehr schöne Bild frischer oder kurzer Zeit erhärteter Muskeln habe ich jedoch nicht geben können, weil meine Bemühungen, mir aufs Neue diese Thiere aus Neapel zu verschaffen, scheiterten. Wie ich hoffe wird jedoch das Praeparat ausreichen. Von einer Linie in der Zwischensubstanz (Krauß) sehe ich in diesen Muskeln durchaus nichts, deshalb glaube ich erwähnen zu dürfen, daß an der an anderen Muskeln auch ich eine Zeichnung sehe, welche auf derartiges bezogen werden kann.

Durch diese Versendung (von im ganzen etwa 60 Präparaten) habe ich geglaubt am bündigsten und raschesten die Streitfrage erledigen oder doch vorwärts bringen zu können und die Bahn für weitere Fortschritte zu eröffnen.

Mit der Bitte diese Sendung allen, welch sich dafür interessieren könnten, für die nächste Zeit zugänglich sein zu lassen

zeichne ich

hochachtungsvoll ergebenst

Kiel im Juli 70.

Dr. V. Hensen

a gestr.: verrathen, eingef.: tragen

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
??.07.1870
Entstehungsort
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 46477
ID
46477