Bartholomäus von Carneri an Ernst Haeckel, Schloss Wildhaus, 2. Oktober 1882

Wildhaus, 2. Oct. 1882.

Geliebter und hochverehrter Freund!

Nur schwer habe ich der Versuchung widerstanden, Ihnen für Ihren lieben, lieben Brief vom 24. vorigen Monats umgehend zu danken. Allein ich wußte, daß jeden Tag Ihr Vortrag einlangen konnte, und daß es mich zwingen würde wieder zu schreiben. Also nur aus Schonung für Ihre nun auf ein Minimum eingeschränkte Zeit schwieg ich bis heute. Heute kam Ihr Vortrag, soeben habe ich ihn, und mit der gleichen hohen Befriedigung wiedergelesen. Ich finde ihn vollendet. Einem einzigen Punkt kann ich nicht beistimmen. Das ist die Ableitung der Sittlichkeit. Doch da stehe ich mit meiner Ansicht ziemlich vereinzelt, während Sie nicht nur Darwin, sondern die jetzige Richtung der Zeit || für sich haben. Die Übereinstimmung mit Darwin macht die Sache zu einem Vorzug für den Vortrag. Ich wüßte demnach gar nichts auszusetzen. Er ist ebenso packend, als umfassend, und wie rein die Form ist, sieht man erst recht im Druck. Er müßte von durchschlagender Wirkung sein.

Daß dies die Gegner um so mehr angefeuert hat, ihrem Ärger – Ceylon wird Ihnen auch gar mancher nicht gönnen – Luft zu machen, ist natürlich und zeigte sich selbst beim Correspondenten der Neuen Freien Presse. Doch was wußte er Ihnen vorzuwerfen? Daß Sie nichts Neues gebracht. Hätten Sie was erfinden sollen? Und dann die Blödigkeit: daß gar kein Grund mehr vorhanden sei zu einem Antagonismus zwischen Ihnen und Du Bois Reymond. Ich mußte herzlich lachen, weil der Erfolg, den Sie errungen, doch nicht bestritten werden konnte. || Hinter der Haltung dieser Kritiker steckt aber mehr, als bloße wissenschaftliche Rancüne; dahinter steckt auch ein nicht geringer Theil Connivenz gegenüber der modern gewordenen Reaction. Davon findet sich auch etwas in der Anmerkung der Rundschau, die mich im ersten Moment geärgert hat. Als ich sie aber, wie ich mit dem Vortrag fertig war, wiederlas, fand ich, daß sie in ihrer superklugen Überflüssigkeit zu einer prächtigen Huldigung für Ihre Person sich emporgeschraubt hat. Lassen Sie mich Ihnen für Brief und Vortrag aus ganzer Seele die Hand drücken.

Daß Sie so freundlich unser gedenken, ist für mich unschätzbar. Die schönen Tage, die Sie mir hier geschenkt haben, werden mit den liebsten Erinnerungen an Wildhaus, vielleicht als der Schlußglanzpunkt bis an mein Lebensende mich begleiten. Die Phylloxera nähert sich in einer Weise, daß ich fest entschlossen bin, wenn ein annehmbarer Preis mir geboten wird, || mich von Wildhaus zu trennen. Ich hänge daran mit jeder Nervenfaser, und daß ich den Verlust leicht ertragen werde, ist nur zum kleinern Theil das Werk meiner Philosophie, und zum weit überwiegenden Theil das Verdienst meines herrlichen Kindes, das ebenso gut, als gescheut, ist. Es freut mich unendlich, daß Sie Fritzis ganzes Wesen gleich gewürdigt haben, und es würde Sie rühren, wenn Sie sehen könnten, wie die kleine Gemse in den Gedanken, ihre Berge zu verlieren, sich hineinfindet, ganz mit der ruhigen Geistesklarheit ihrer Mutter.

Die Götter wissen es übrigens, ob und wann das sein wird. Vielleicht kommt’s lange nicht dazu, vielleicht gar nicht, vielleicht aber auch bald. Darum mußte ich’s Ihnen sagen, und Ihnen auch sagen, wie sehr Sie jetzt zu Wildhaus gehören, wo von Ihnen gesprochen wird, wie wenn Sie eigentlich hier zu Hause wären. Sehen wir uns wieder hier, so wird’s ebenso schön, und wo immer wir uns wiederfinden, wird’s wundervoll sein. Bleiben Sie sammt Ihren Lieben gesund und seien Sie von uns allen herzlichst gegrüßt. Ihr treuer

B. Carneri

Brief Metadaten

ID
4615
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Slowenien
Entstehungsland zeitgenössisch
Österreich Ungarn
Datierung
02.10.1882
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
14,4 x 22,9 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 4615
Zitiervorlage
Carneri, Bartholomäus von an Haeckel, Ernst; Schloss Wildhaus; 02.10.1882; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_4615