Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Ferdinand Sommer, Jena, 23. Juli 1918

Abschrift.

Antrag auf Gründung einer

außerordentlichen Professur

für allgemeine Entwicklungslehre

Herrn Prof. Dr. Sommer,

z. Z. Dekan der Philosophischen Fakultät

der Universität Jena

Jena, 23. Juli 1918

Hochgeehrter Herr Professor!

Im Anschluss an meinem Bericht über die Stiftung eines neuen „Instituts für allgemeine Entwicklungslehre“ und die damit verbundene Gründung eines „Genetischen Museums“, welchen ich heute an den Illustren Senat eingereicht habe, erlaube ich mir an die Hohe Philosophische Fakultät (deren Mitglied ich von Ostern 1865 bis Ostern 1909 war) folgende Bitte zu stellen.

Die Entwicklungslehre im weitesten Sinne hat im letzten halben Jahrhundert eine so großartige Erweiterung ihrer Aufgaben und eine so fruchtbare Ausbildung ihrer Forschungsmethoden erfahren, dass es höchst wünschenswert erscheint, sie durch eine besondere Professur im Lehrplan aller Universitäten vertreten zu sehen. Ihr hoher Wert ist gerade in Jena seit mehr als 100 Jahren richtig gewürdigt worden; wir erinnern nur an Goethe und Oken, ein Schelling und Hegel, an Schleiden und Huschke, an Gegenbaur und seine Schüler. In meinen eigenen biologischen Arbeiten ist seit mehr als 60 Jahren der Gedanke der „natürlichen Entwicklung“ – im Gegensatz zur traditionellen „übernatürlichen Schöpfung“ – immer mehr als höchstes leitendes Erkenntnis-Prinzip ausgebildet und verwertet worden. Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass der Entwicklungsgedanke mehr und mehr in das gesamte Gebiet der wissenschaftlichen Forschung eindringen und alle verschiedenen Zweige derselben befruchtend zur einheitlichen Weltanschauung führen wird.

Wenn ich gerade jetzt an die Hohe Philosophische Fakultät von Jena mit der Bitte herantrete, zum erstenmale eine besondere Professur für allgemeine Entwicklungslehre zu gründen, und mit diesem leuchtenden Beispiel den andern Universitäten voranzugehen, so wird dieser Antrag durch folgende dringliche Umstände begründet: ||

I. Die Gründung des neuen „Genetischen Museums“, welches am 1. August dieses Jahres in meiner Villa „Medusa“ tatsächlich ins Leben tritt (vergleiche meinen heutigen Bericht an den Senat).

II. Die damit verbundene Stiftung eines naturwissenschaftlichen „Instituts für allgemeine Entwicklungslehre“, dessen Direktor zugleich die Aufsicht und Leitung des Museums übernimmt (vgl. oben erwähnten Bericht an den Senat).

III. Den glücklichen Umstand, dass in dem jetzigen Vorstandea des „Haeckel-Archivs“, Dr. phil. Heinrich Schmidt (Jena), eine Persönlichkeit zur Stelle ist, welche sich ganz vorzüglich für die Direktion des neuen Museums eignet und dieselbe am 1. August übernehmen wird (vgl. die unten angeführten Beilagen).

IV. Die vor wenigen Wochen erfolgte Publikation des großen und inhaltreichen Werkes von Dr. Heinrich Schmidt: „Geschichte der Entwicklungslehre“ (550 Seiten, Verlag von Alfred Kröner, Leipzig). Vgl. die hier angeführten Beilagen, insbesondere das Urteil des Sachverständigen Dr. B. in B., sowie den Artikel in Nr. 169 der „Jenaischen Zeitung“ vom 21. Juli 1918.

Der neue Direktor des „Genetischen Museums“ und des „Haeckel-Archivs“, Dr. Heinrich Schmidt (geb. 1874 in Heubach, Sachsen-Meiningen), ist der Sohn eines unbemittelten Glasmachers. Unter Ueberwindung grosser Schwierigkeiten hat er sich (unter ähnlichen Umständen wie unser berühmter Kollege Ernst Abbe) durch eisernen Fleiss und Eifer, vermöge ausgezeichneter Begabung und philosophischer Talente, zur Doktor-Promotion durchgerungen (1904). Seit 20 Jahren (1898) war er mein spezieller Schüler in Zoologie und zeichnete sich als mein Assistent so aus, dass ich ihn durch Stipendien und durch Unterstützung wohlhabender Gönner der Entwicklungslehre in seinen Studien auf alle mögliche Weise zu fördern suchte. Auf Reisen durch alle Teile Deutschlands, sowie nach Italien, der Schweiz und Norwegen erweiterte er seine Kenntnisse. In zahlreichen (über hundert) öffentlichen Vorträgen, in ca. 40 Städten, bewährte er sein vortreffliches Vortragstalent. Die Ausführung seines ausgezeichneten grossen Werkes (vergleiche die rot angestrichene Stelle in dem Artikel Nr. 169 der „Jenaischen Zeitung“ vom 21. Juli, veranlasst von einem sach-||kundigen Kollegen), sowie seine zahlreichen früheren Arbeiten, besonders das vortreffliche „Wörterbuch der Biologie“ (580 Seiten, Kröner, Leipzig), sodann das weitverbreitete „Philosophische Wörterbuch“ (1913, 3. Aufl. 1918 – 40.000 Exemplare –) bürgen dafür, dass Dr. Heinrich Schmidt der Berufung zum „Professor extraordinarius für allgemeine Genetik“ vollkommen würdig ist und die wichtige ihm übertragene Aufgabe ihren hohen idealen Zielen befriedigend lösen wird.

Hochachtungsvoll

Ernst Haeckel

Professor (Emeritus)

a korr. aus: Vorstandes

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
23.07.1918
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 45235
ID
45235