Ella von Crompton an Ernst Haeckel, Grunewald, 12. September 1914.

Berlin-Grunewald, Charlottenbrunnerstr. 4

12. Septr. 14.

Hochverehrte Excellenz,

für Ihre freundliche Karte vom 18. Aug. danke ich Ihnen herzlichst. Es war mir unmöglich, dieses früher tun zu können, obgleich besonders am 28. August meine Gedanken viel in Jena und bei Ihnen, hochverehrter, lieber, guter Herr Geheimrat, weilten.

Der furchtbare Krieg spannt alle Kräfte an und fordert so ungezählte Opfer. Am entsetzlichsten sind aber doch die Franktireurs. Der Onkel einer befreundeten Dame, der als General vor Namur stand, hat dort eine Frau und einen 6 jähr. Jungen erschießen lassen müssen, weil letzterer seinen Adjudanten erschossen || hat. Gestern bekam ich die Todesnachricht vom Grafen Albrecht von Rechteren – Limpurg, der in Frankreich gefallen ist. Es ist der dritte und wertvollste der Brüder –

Unsere Siegesnachrichten aus dem Westen sind ja glänzend. Hoffentlich wird es im Osten auch bald so weit. Vorläufig ist die Not in meinem armen Ostpreußen sehr groß. Alles ist dort verwüstet und verbrannt und was nicht mehr zur Zeit flüchten konnte, ist niedergemacht. Scharen von Flüchtlingen sind hier angekommen, mit nichts weiterem gerettet, als was sie auf dem Leibe hatten. Ich habe mir auch aus dem Asyl für Obdachlosen eine solch arme ostpreuß. neunköpfige Familie a geholt, sie in einem leeren Laden untergebracht, Betten und notwendigsten Hausrat von Bekannten zusammenbekommen, Beschäftigung besorgt für die Frau, 3 Töchter und den Mann hat mein Mann in der hies. Gasanstalt nach vielen Be-||mühungen untergebracht. So hat man den Leuten wenigstens etwas ihr Los erleichtert.

Und nun denken Sie, lieber, guter Herr Geheimrat, ich habe ein kleines ostpreuß. Findelkind 5 – 6 Mon. alt ganz zu mir genommen. Als ich mir die ostpr. Flüchtlingsfamilie holte, sagte mir die dortige Schwester, daß am Tage vorher ein kleines Mädchen in einem Bett liegen geblieben wäre. Auf Nachforschen hin, hätte sich herausgestellt, daß eine Familie, die nach der Mark weiter transportiert wäre, das Kind da gelassen hätte, weil es nicht ihr’s war, sondern auf einem Bahnhof in Ostpr. ihnen von einer Frau in den schon angeschossenen letzten Waggon im letzten Augenblick gereicht worden wäre. Als ich mir das arme, verlassene Würmchen zeigen ließ, in Lumpen gewickelt, denn auf derb tagelangen Eisenbahnfahrt war wohl Alles von ihm weggeworfen, und es mich so groß ansah mit seinen blauen Guckaugen, da nahm ich es mir einfach mit. Man weiß nun garnicht, wie es heißt, woher es ist u. wie alt es ist. Ich habe es mir am 25. Aug. geholt. Mein guter Mann hat sich || schon ganz damit abgefunden und seine Freude daran. Babywäsche hat mir meine Freundin gegeben, ein Körbchen eine Frau Hauptmann, deren Mann im Hauptquartier steht (und bereits vor 4 Tg. aus Frankreich hierher telephoniert hat) einen Wagen, eine Badewanne von andern Damen. Viel Sorge und Not hat es mir bis jetzt gemacht, indem sich das kleine Wesen auf der langen Fahrt eine doppelseitige Lungenentzündung und eine Magen u Darmstörung geholt hat. Nächtelang war ich auf, um mir das Kleinchen doch auch etwas zu verdienen. Sehr froh bin ich nun, daß jetzt Alles überstanden ist, was hauptsächlich meiner sorgfältigen Pflege zu danken ist, wie der Sanitätsrat mir zu meinem größten Stolze gestern sagte. Mein kleines Dienstmädchen tut auch sehr gerne alle die Arbeit und Wäscherei. Als die Kleine so krank war, beklagte sich unsere Portierfrau ganz frech darüber, daß das Kind nachts so viel schrie, da sagte mein Mädel großartig zu ihr: „Na, wenn Deutschland keine kleinen Kinder hätte, || wovon sollte es denn wohl groß werden!“

Ich bin dem gütigen Geschick sehr, sehr dankbar, daß es mir das arme, verlassene, kleine Puttchen in den Weg geführt hat. Liegt doch in jeder Frau etwas Mütterliches, das sich betätigen will, wenn die Zukunft nicht grau aussehen soll. Ich habe doch nun etwas mehr wieder, wofür ich leben kann und mag. Es ist doch etwas Schönes, solch einen kleinen, werdenden Menschen hernach in die große Welt des Schönen führen zu können, die unsere großen deutschen Männer uns geschaffen haben. Die Erfahrungen und Werte, die man selbst erworben hat, weiter mitteilen zu können. Ich wäre Ihnen so dankbar, hochverehrter, lieber, guter Herr Geheimrat, wenn Sie mir auch ein gutes Wort für das arme Kleinchen mit auf den Weg geben möchten!

Wir haben schon bei der Regierung, die ja jetzt in Berlin ist, u. auf dem Polizeipräsidium || nachgeforscht, aber ganz ergebnislos. Die Mutter soll eben dort umgekommen sein. Mein Mann will dann der Kleinen seiner Namen gerichtlich geben lassen. Ich möchte sie „Edeltraut“ nennen, abgekürzt „Trautchen“. – –

Hoffentlich geht es Ihnen, lieber Herr Geheimrat, gut, ebenso Ihrer hochverehrten Frau Gemahlin. Ihren Artikel über „England’s Blutschande“, der im hauptsächlichsten Auszug auch in der B. Z. am Mittag erschienen war, habe ich mir in verschiedenen Exemplaren gekauft und dieselben mit anderen Zeitungen u. verschiedenen Weißbüchern durch die amerik. Botschaft mit dem ersten Zug von hie nach Amerika mitschicken lassen; um dort etwas aufklärend zu wirken, da England doch den ganzen Cabelverkehr in Händen hatte, und sich doch nicht entblödete, die ärgsten || Lügen über unsere angebliche Niederlage in die Welt setzen. Wir haben übrigends gestern engl. Zeitungen vom 3. Septr. gelesen, die so voll von gemeinen Lügen sind, daß es einfach unglaublich ist.

Japan ist doch auch ein ganz gemeines Volk, solch gelbes Pack.

Doch nun, lieber, guter Herr Geheimrat, Alles Liebe und Gute, einen schönen Gruß Ihrer hochverehrten Frau Gemahlin, es grüßt Sie auf’s Innigste, mit besten Grüßen auch von meinem Manne, stets und immer

Ihre Sie so hochverehrende, Ihnen treu und innigst dankbare

Ella von Crompton

a gestr.: aus Ostpr.; b korr. aus: dem

Brief Metadaten

ID
4495
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
12.09.1914
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
7
Umfang Blätter
4
Format
14,6 x 19,1 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 4495
Zitiervorlage
Crompton, Ella von an Haeckel, Ernst; Berlin-Grunewald; 12.09.1914; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_4495