Marie Eugenie delle Grazie an Ernst Haeckel, [Wien, 16. Februar 1895]

Hochverehrter Herr!

Ich hab’ Ihnen noch für die mir freundlich zugemittelten zwei Vorträge von August Boltz, die ich mit großem Interesse gelesen, zu danken, und eben im Begriffe, dies zu thun, erhalt’ ich Ihren Aufsatz „Die Wissenschaft und der Umsturz“, der mich umso tiefer berührt, als ich aus demselben mit tiefer Besorgnis ersehe, dass auch Sie || die Freiheit des deutschen Geistesleben ernstlich bedroht glauben. Ich hatte in dieser Gesetzes-Vorlage nur einen Einschüchterungsversuch erblickt, dessen Zurückweisung mir selbstverständlich schien.

Hoffentlich nehmen Herr Professor es mir nicht übel, wenn ich das Erscheinen Ihrer Äußerung in Hardens „Zukunft“ zum Ausgangspunkt einer Bitte mache, die ich ohne dieses, Ihr so freimütiges Eintreten für die Unabhängigkeit des Forschens und Schaffens kaum gethan hätte. Ich erhalte seit dem Erscheinen meines || „Robespierre“ von unserem verehrten, gemeinschaftlichen Freunde Carneri jede Woche einen begeisterten Brief über mein neues Werk. Ich fühle mich hiedurch und durch den Umstand, dass sich jüngst sogar ein Literatur-Professor, Dr. Max Koch in Breslau, in ähnlicher Weise geäußert, ermuthigt, Sie zu bitten, vielleicht durch einen kurzen, offenen Brief in Hardens „Zukunft“ Ihrerseits auf meine Dichtung aufmerksam zu machen; wenn dies unter Bezugnahme auf den 8. und namentlichea den 12. Gesang des I. Theiles, „Die || Mysterien der Menschheit“ geschähe, etwa unter dem Titel „Die Poesie der modernen Naturwissenschaft“, so würde ein, wenn auch nur kurzes Wort von Ihnen die Verbreitung der von mir in diesem Werke ausgesprochenen Gedanken mehr fördern, als die lobsäuselnde Kritik mancher Ästhetiker von Beruf, die des Ideengehaltes meiner Dichtung vielleicht nicht einmal mächtig werden. Carneri wird in der Wiener „Neuen freien Presse“ über mein neues Werk berichten. In der Überzeugung, dass Sie mich nicht mißverstehen, zeichne ich in ausgezeichneter Verehrung und Hochschätzung

Ihre

ergebene

M. E. delle Grazie.

a irrtüml.: namentliche

Brief Metadaten

ID
44664
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Österreich
Entstehungsland zeitgenössisch
Österreich-Ungarn
Datierung
16.02.1895
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
11,5 x 15,8 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 44664
Zitiervorlage
Delle Grazie, Marie Eugenie an Haeckel, Ernst; Wien; 16.02.1895; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_44664