Haeckel, Karl; Sethe, Wilhelmine

Karl Haeckel an Ernst Haeckel, Freienwalde, 1. März 1859, mit Nachschrift von Wilhelmine Sethe

Freienwalde

Dienstag 1 Maerz 59.

Lieber alter Junge!

Ich glaube gar, ich habe Dir bis jetzt noch nichts Ausführlicheres über unsern neuen Ankömmling geschrieben. Der kleine Bengel (den die Jungen durchaus Ernst getauft haben wollen, „damit wir auch einen Ernst und eine Anna hätten“) ist ein großes kräftiges Kind, er wog in den ersten Tagen ca. 9 Pfund u. maß 19 1/8 Zoll; dabei sieht er im Gesicht u. an den Gliedmaßen so vollständig u. entwickelt aus als wäre er längst 4 Wochen alt. Schreien kann er gehörig, aber in ruhigen Stunden auch sehr freundlich u. klar um sich sehen. An Durst fehlt es ihm nicht; er läßt sichs an der Mutter Brust prächtig schmecken. Unsrer Wöchnerin geht es bis jetzt auch recht gut. Sie ist am 9t Tage, vorigen Sonnabend, einige Stunden, u. seit Sonntag von früh bis Abend 9 Uhr aufgewesen. Sie ist sehr heiteren Sinnes u. wir beide doch recht froh, daß wir Mutter Minnchen zur Pflege haben. Die Kinder sind bis auf eine Erkältung die sie in der Stube hält munter; bei Anna ist etwas Schärfe im Gesicht ausgebrochen.

Aus Freienwalde kann ich Dir begreiflicher Weise nicht viel Neues erzählen, das für Dich Interesse hätte. Heute haben wir im Alexandrinenbade großes Konzert von Musikfreunden für unsern Louisenverein. Sonst komme ich wenig aus des Abends, u. bin meist zu Hause, neben Politicis treibe ich jetzt Volkswirthschaftslehre, u. sehe dabei recht ein, welch unerläßliche Hülfswissenschaft dieselbe zum Verständniß der Geschichte ist. Dabei lese ich natürlich Zeitungen u. Journale fort. Erstere kosten mir bei dena Unfug-||reichen Landtagsverhandlungen jetzt manche Stunde. Das Ehegesetz u. das Gesetz zur Ausgleichung der Grundsteuer werden – außer einer Menge Petitionen – den Hauptgegenstand der Berathung bilden. –

Ich denke, Dir was mir so beim Lesen vorkommt u. von Interesse für Dich zu sein scheint, ohne besondere Ordnung, wie es grad kommt zu schreiben u. fange gleich damit an: Neulich las ich, M. Schulze habe einen Rufb als ordentlicher Professor nach Rom erhalten. Virchow hat in der Singakademie einen Vortrag über Atome u. über die Zelle gehalten der viel Aufsehn erregt hat; die Prinzessin Preußen hat denselben mit angehört.

– Vor mir liegt ein Aufsatz der Grenzboten-No 6/59. S. 212c: „Die Zerstörung des alten Rom“, den ich Dir gern schickte, wenn ich könnte. Der Verfasser sucht darin nachzuweisen, daß die Vandalen u. Gothen eigentlich verhältnißmäßig nur sehr wenig zur Zerstörung beigetragen haben; die Hauptsache ist im eigentlichen Mittelalter geschehen u. zwar

1.) durch das Einreißen der alten schönen Tempel, um deren Marmorsäulen u. Verzierungen zum Bau der christlichen Kirchen zu benutzen. Man war zu arm an Ideen u. die Baukunst zu sehr heruntergekommen, als daß sie sich anders zu helfen gewußt hätte. Dabei hat man in rohester Weise die verschiedensten Säulen u. Ornamente durcheinander gemischt. Als schlagendes Beispiel für diese Sitte, vorhandene Gebäude zu zerstören u. mit deren Ornamenten neue zu schmücken, werden die Kirchen S. Sabina, S. Maria Maggiore, S. Maria in Trastevere, S. Lorenzo fuori le mura aufgeführt. Namentlich die letztre soll eine rechte Musterkarte von verschiednen Bauwerken ent-||lehnter Bruckstücke sein. Von nicht kirchlichen führt er den Triumphbogen Constantins an, dessen schönste Reliefs dem des Trajan entlehnt sind u. grell gegen die neu hinzugefügten aus Constantins Zeit abstehen.

2.) Die furchtbarste Verwüstung durch fremde Truppen erlitt Rom im MittelAlter durch Kaiser Heinrich IV., der das Capitol zerstörte u. den Papst in d. Engelsburg belagerte, – durch den den Papst Gregor VII. entsetzenden Herzog Guiscard, der durch Feuer einen großen Theil des Campus Martius einäscherte u. sich so den Weg von der porta del popolo her auf die Engelsburg bahnte, späterd auch noch fast alle Gebäude vom Lateran bis zum Colosseum in Brand steckte. Der Caelius und Aventin sind seitdem verödet.

3.) Die Parteistreitigkeiten in der Stadt selbst machten – ganz so wie Du es von Florenz in Deinem Briefe schilderst – aus jedem Hause wo möglich eine Festung. Das Geschlecht der Colonna hatte von der Piazza St. Marzello bis auf St. Apostoli hin, wo jetzt der Pallazzo Colonna ist, seine befestigten Wohnungen und verschanzte sich wahrscheinlich in den Thermen des Constantin. Die Orsini hatten ihren Sitz auf Monte Giordano, einem Hügel in der Nähe des ponte S. Angelo, ferner in dem zerstörten Theater des Pompejus (jetzt Pallazzo Pio) u. überhaupt auf Campo di fiore, auf dem rechten Tiber Ufer den Palast S. Peter, die Gaetani, das mächtigste Geschlecht nächst jenem hatten den Torre delle Milizie u. Grabmahl der Caecilia Metella inne, die Savelli das Theatro di Marcellus. Die so zurechtgemachten Haus-Festungene waren meist noch durch Gräben u. Pfahlwerk vertheidigt; bei Kämpfen wurden die nächsten Straßen mit Ketten, Holzwerken u. Barrikaden versperrt. Aus diesen Parteikämpfen erklärt sich die furchtbare Verwüstung des Hauptes der Volkspartheif des Senators Brancaleone aus Bologna 1257, der, um die Macht des Adels durch Vernichtung seiner Burgen zu brechen, die sämmtlichen festen Burgen des Adels zu zerstören beschloß, und wirklich c. 150 feste Gebäude, meist aus dem Alterthum zerstörte, auch einen || Theil des Colosseum.

4.) Am Tiefsten sank Rom z. Zt. des Schisma 1305–1407. Die Stadt war so entvölkert, daß sieg kaum 17,000 Einwohner zählte. Fast alle Kirchen standen verlassen, mit sinkenden Mauern u. eingestürztem Dach da, unregelmäßig zerstreute Hütten bildeten den bewohnten Theil Rom’s, mit Ausnahme des Capitols waren die andren Hügel verödet.

5.) Die Herstellung des Verfallnen nach dem Exil im 15 u. 16 seculum ward eine neue Ursache der Zerstörung antiker Gebäude; man benutzte dieselben einfach als Baumaterial, die 3 größten Paläste, der venetianische, die Cancelleria vecchia, u. Farnese sind großentheils aus Steinen vom Colosseum gebaut.

[Nachschrift von Wilhelmine Sethe:]

Mein lieber Ernst!

Karl hat mir hier noch ein sehr nettes Blättchen überlassen, was ich gern benutze Dir selbst einen herzlichen Gruß zu senden und Dir zu sagen wie ich mich freue daß Dirs bisher so gut ergangen ist und wünsche von ganzer Seele es werde so bleiben.

Anna schreibt immer sehr vergnügt und zufrieden aus Steinspring, und so freue ich mich eures Glückes auch in der Trennung, denn ich bedinge immer mit dem Begriffe von Glück, Zufriedenheit mit uns selbst und den äußeren Verhältnissen.

Ich möchte Dirs nochmals recht ans Herz legen: Mäßigung in allen Dingen lieber Ernst, sowohl in Deinen Arbeiten, Deinen bürgerlichen Anstrengungen, der Betheiligungen dortiger Verhältnisse und Ansichten, und auch Deiner Geschäfte. Denke Dir immer daß Du dort sein sollst, um so eher Dein liebstes Ziel zu erreichen und es wird vieles leicht werden. Vertraue immer meiner aufrichtigen Liebe, Du wirst Dich nie täuschen. Deine treue Mutter Sethe.

Hier ist einh ganz prächtiger kleiner Neffe einpaßirt, ein liebes Kind. Mutter und Kind sind wohlauf.i

a irrtüml.: dem; b korr. aus: Rufe; c eingef.: -No 6/59. S. 212; d gestr.: wovon; eingef.: später; e eingef.: Haus-; f eingef.: Hauptes der Volksparthei; g eingef.: sie; h eingef.: ein; i Text weiter am linken Rand von S. 4: Hier ist … sind wohlauf.

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
01.03.1859
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 44412
ID
44412