Haeckel, Karl

Karl Haeckel an Ernst Haeckel, Freienwalde, 7. Februar 1860

Freienwalde, d. 7 Febr. 60

Lieber Bruder!

Laß auch mich zum 16. dieses Monats die Zahl der Briefe mehren, die Dich hoffentlich im fernen Süden recht lebendig an die traute Heimath erinnern werden. Ist Dir auch derjenige, den Du von der Einen, Liebsten, erhältst, der angenehmste – (und das finde ich ganz in der Ordnung!) – so muß es Dich doch erfreuen, wenn es Dir von Neuem in Erinnerung gebracht wird, mit wie herzlicher Theilnahme alle die Deinigen an diesem Tage im Geiste um Dich versammelt sein werden. – Was ich Dir zu Deinem Geburtstag wünsche? – Nun was kann ich Besseres wünschen, als glückliche Rückkehr, frohes Wiedersehen der Deinen, baldige Erfüllung Deiner sehnlichsten Wünsche nach einer festen, gesicherten Existenz und der Gründung eines eigenen Heerdes. Werden auch die letzteren beiden Ziele schwerlich in diesem Jahre von Dir erreicht werden – wer kann wissen, wann? –, so führt Dich doch dasselbe hoffentlich durch die Verarbeitung des auf der Reise Gesammelten um ein gut Theil den Zielen näher. Auf das Wiedersehen freuen sich unsere lieben Alten – wenn man den Vergleich wagen darf – wahrlich nicht weniger als Deine Anna. Sie hängen mit unendlicher Liebe an Dir und werden ganz glücklich sein, wenn sie den tapferen Esser wieder bei Tische, die unruhige Seele in der jetzt von Cousine Ottilie bewohnten Studirstube von den verschiedensten Pflanzen und Seebiestern umgeben, emsig kramen und schaffen sehen. Du wirst den Vater schweigsamer als früher finden; andere meinen, seit der letzten Sommerreise darin eine Veränderung verspürt zu haben. Ich kann nicht sagen, seit wann; aber wenn ich mich auf eine längere Zeit zurückdenke, || finde ich doch einen Unterschied. Kommt man mit ihm im Gespräch auf irgend eines seiner Lieblingskapitel, oder auf eine Tagesfrage in der Politik, so ist er der alte in Lebendigkeit und geistiger Frische; auch hat das Interesse für alles, was ihm in Geschichte, Politik, Religion am Herzen liegt, nicht nachgelassen, und er studirt in alter Weise fort. Aber er ist brieflich und im Gespräche nicht mehr in dem früheren Maaße mittheilsam. Gott erhalte den lieben, prächtigen Mann uns und der lieben Alten noch eine Weile und lasse ihn des Glückes in seiner Familie sich erfreuen. Mutter ist in der letzten Zeit viel kräftiger geworden und wird es, wenn sie sich gehörig schont, so Gott will, immer mehr werden. Ob sie aber bei Deiner Zurückkunft schon wieder ohne weibliche Hülfe dem Hauswesen wird vorstehen können? – In ihren Vorurtheilen u. Eigenheiten setzt sie sich immer noch mehr fest; im Uebrigen aber ist sie unsre liebe prächtige Alte, mit dem reichen, liebevollen Gemüthe, die in allen wichtigen Lebenslagen mit klarem entschiedenem Wesen selbsta handelt und anderen dazu Rath giebt. Ich fühle mich allemal recht behaglich und wohl, wenn ich auf einige Tage in der Aeltern Hause bin und freue mich, daß ich dies Gefühl, trotz des glücklichen Lebens im eigenen Hause, mir habe bewahren können.

Hier in Freienwalde sind wir trotz so mancher bei dem ungesunden (zu gelinden und doch in Temperatur sehr wechselnden) Winter hier herrschenden Krankheiten bis dato noch verschont geblieben. Die Kinder sprechen oft von Dir und wollen dann wissen, wie weit Messina oder Neapel von hier sei? Wann Onkel Ernst wiederkomme? u.s.w. Nicht selten reisen sie dann auch bei ihrem Leibspiel: Kutsche bauen nach Italien. Unser Kleinster gedeiht trotz dem, daß er || immer noch sehr vom Ausschlag geplagt wird, zu unsrer großen Freude. Er ist ungeheuer lebendig und zappelich, hat große Zärtlichkeit zu mir und ist ein heiteres, fideles Seelchen. Seit 8 Tagen kriecht er ganz normal auf allen Vieren, versucht auch schon sich aufzurichten u. ein Weilchen auf seinen kleinen Füßchen zu stehen.

In der Stadt macht ein Buch des Ober Predigers M., unseres Mechlers, viel Gerede; er hat dasselbe im vorigen Jahre herausgegeben; es enthält in der ersten Hälfte eine weit gehende, aber den Grundgedanken nach wie das allgemeine Urtheil Sachverständiger eminent verfehlte Kritik des neuen Testament’s, im zweiten Predigten über den Galaterbrief, darin er seine eigenthümlichen Ansichten über Entstehung und Bedeutung der Evangelien stückweise zur Anwendung bringt. Ein zur Unzeit erhobener kleiner Zeitungkrieg scheint das Consistorium auf das bisher hier nur sehr wenig gelesene Buch aufmerksam gemacht und zu einem Disziplinar Einschreiten veranlaßt zu haben, das M. leicht vom Amte bringen kann. Dies seiner trefflichen Frau und seinen Kindern damit drohende Unglück erregt allgemeine Theilnahme. An ihm selbst wird seine Rührigkeit und Tüchtigkeit im praktischen Leben und sein pädagogisches Talent anerkannt, während man seine unklugen und unbedachten veröffentlichten Schriften nicht entschuldigen kann. Die ganze Geschichte erinnert aufs Neue lebhaft an den Zwiespalt zwischen den religiösen Ansichten der meisten rationellen Naturen unter unter unsrer protestantischen Bevölkerung mit den Glaubensbekenntnißen der protestantischen orthodoxen Kirche.

Meine Abende bringe ich jetzt mehrfach in re-||gelmäßiger Weise zu: Montags gehe ich dann u. wann in den Handwerkerverein, der sich hier nach dem Muster des Berliner kürzlich gebildet hat. Es werden dort populäre Vorträge meistb aus dem Gebiete der reinen oder angewandten Naturlehre oder der Geschichte gehalten und dann Fragen aus einem Fragekasten beliebig beantwortet. Dienstags haben wir nettes Lesekränzchen mit Frl. Waagemann u. Arndt zusammen; die letzten Abende haben wir die Gregorovius’schen Idyllen am baltischen u. latein. Ufer aus Deinem Buche gelesen (NB. Die Italia von Schücking ist angekommen und wird zum 16t Anna aufgebaut werden). Donnerstags habe ich mit Major von Plehwe (einem kürzlich erst hergezogenen sehr gebildeten und auch liberalen Mann) u. Dr. Blaschke ein Lese- u. Plauderkränzchen, in dem schöne Literatur und Politik getrieben wird. Sonnabends turne ich von 8–10 Uhr Abends. Dazwischen nun noch kleine Gesellschaften zum Thee, so daß die Zeit rascher verfließt u. mir knapper ist, als mir lieb ist.

In Politicis sieht es bei uns im Innern etwas flau aus. Die Hℓ. Minister (selbst Schwerin) haben wohl guten Willen, sind aber nicht energisch genug & räumen vor allem nicht mit den unbrauchbaren Beamten des alten Regiments auf, mögen darin auch vielleicht durch den Prinz Wilhelm verhindert werden. Das Herrenhaus wird sich in dieser Session wieder gründlich halsstarrig zeigen u. wahrscheinlich alle wichtigeren Gesetzvorlagen (Ehegesetz, Grundsteuerausgleichung u. dergl.) durchfallen lassen, bis auf das Militär-Organisationsgesetz. Letzteres wird allgemein für nothwendig gehalten, || doch über das Wie? herrschen sehr abweichende Meinungen. Die möglichste Abkürzung der Dienstzeit einerseits, andrerseits aber die Heranziehung aller Dienstfähigen u. Abschaffung des Ausloosens so wie Abkürzung des Alters für das erste Aufgebot, das ganz mit der Reserve verschmolzen werden soll, erscheinen am wünschenswerthesten. Die liberalen Zeitungen opponiren wieder vielfach und das ist auch nöthig damit ein Regiment frisch sich erhält. (Die National- und Volkszeitung sind darum auch recht tüchtig redigirt). Das Jahr 1860 scheint wenn man den Blick nach auswärts wirft, nicht minder unruhig u. wechselvoll als das vorige zu werden. In Österreich können die bisherigen Zustände sich nicht mehr lange halten. In Ungarn und Venetien wird der Zündstoff wohl bald so aufgehäuft sein, daß die Bombe platzt.

Doch genug hiervon; es dauert ja nicht mehr lange, so können wir darüber miteinander mündlich reden; wir freuen uns alle schon recht auf diese Zeit; den Freienwaldern mußt Du dann jedenfalls einmal eine Frühlingswoche widmen und an unseren herrlichen Wiesen u. Wäldern Dich für den lang entbehrten Genuß des Grüns entschädigen. Herzlichen Gruß in alter Liebe von Deinem

Karl ||

1. Geschäftliches. Med. Rath Aegidi (dem ich gestern Deine Beschreibung des Butera-Gartens mittheilte, worüber er sich sehr freute), bittet Dich, ihm eine getrocknete Tarantel zu kaufen u. mitzubringen. Er bekommt sie sonst nicht ächt u. braucht sie zu Medikamenten.

2.) Neulich erkundigte ich mich bei einem Stettiner Schiffer nach den Frachtsätzen von Messina nach Stettin. Bei Apfelsinen u. andern leichten Gegenständen zahlt man 25 sgr. – 1rh. pro Ctr. Willst Du es also riskiren u. nicht aus Vorsicht alles bei Dir behalten, so kannst Du ja zum Theil Deine Sachen per Kauffahrer nach Stettin senden.

3.) Jedenfalls könntest Du, wenn Du dort gut u. billig eine Apfelsinen Kiste bekommst, eine solche über Stettin nach Berlin an d. Aeltern senden. Bedarf es dazu der Vermittelung eines Spediteurs in Stettin? Darnach mußt Du Dich dort erkundigen.

a eingef.: selbst; b eingef.: meist

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
07.02.1860
Entstehungsort
Entstehungsland
Zielort
Messina
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 44407
ID
44407