Max Schultze und Johannes Lachmann an Ernst Haeckel, Bonn, 6. – 12. Februar 1860

Bonn 6 Februar 1860.

Lieber Freund!

Sie haben mir durch Ihren langen ausführlichen Brief eine große Freude gemacht und danke ich vielmals dafür. Während ich mich hier in den nicht sehr anregenden Umgebungen meiner schlechten Anatomie tüchtig abquäle und den Winter nicht viel meinen Lieblingsplänen und Arbeiten leben kann, schwelgen Sie Tag aus Tag ein von früh bis spät in den herrlichsten Schätzen. Da ist es sehr recht von Ihnen, wenn sie mich von Zeit zu Zeit Theil nehmen lassen an Ihren Freuden und auf Ihren Besuch Ende April oder Mai rechne ich auch ganz sicher, da Sie mir Hoffnung auf denselben gemacht haben.

Daß Sie sich vorzugsweise die Polycystinen u. verwandten Rhizopoden zum Studium ausersehen finde ich natürlich sehr lobenswerth, u. daß Sie dem einzigen Müller so auf Schritt und Tritt dabei folgen erhöht Ihnen den Genuß bei der Arbeit gewiß, wie es andrerseits eine Garantie liefert, wenn es daran sonst noch bedürfte, daß Sie auch von seinem auf das große Ganze gerich[te]ten Geiste stets umschwebt sind, und mit seiner Unermüdlichkeit „scharren“, wie er sich ausdrückte.

Meine Freunde Lachmann und La Valette haben mich lange warten lassen, so hat sich meine Antwort etwas verzögert. Ersterer hat lange an Furrunculosis gelitten u. ist noch nicht frei davon, hat mir aber gestern ein Blättchen für Sie gebracht. Letzterer ist noch nicht dazu gekommen Ihre Wünsche zu befriedigen || [die]a Prosectorarbeiten nehmen ihn sehr in Anspruch u. da er noch mit einer schriftstellerischen [Arbeit] nebenbei beschäftigt ist so nimmt er sich zu Nichts weiter Zeit. Er wird Ihnen direct schreiben.

Neben der genauesten histiologischen Analyse der Rhizopoden mit stärksten Vergrößerungen ist natürlich immer die Frage auch der Art der Fortpflanzung die wichtigste, und denke ich werden Sie entscheiden können, ob da solche Geschlechtsorgane wie bei den Infusorien, Korn u. Kornkörper vorkommen, b und ob sich Unterschiede in der Ausbildung derselben einmal zu Hoden mit Sperma, das andere Mal zu Zellen, die man Eier nennen könnte, finden – oder ob die Fortpflanzungskörper, die Jungen resp., nur zu individueller Selbstständigkeit gelangende Parenchymklumpen sind – eine Art Knospenbildung.

Ich wollte Sie hätten das neuec System von Oberhäuser’s Nachfolger Hartnack , das ganz vortrefflich ist u. Alles bisher geleistete weit übertrifft – Sie müssten es sich auf der Rückreise von Paris mitbringen, kostet 150 fr., No 9 avec immersion. Es wird Sie interessiren zu hören, daß ich jetzt künstliche Diatomeenschaalen mache, d. h. dünne Kieselhäutchen mit der Zeichnung [Zeichnung] und daß dabei herausgekommen ist, daß diese Zeichnung auch auf den Diatomeen der Ausdruck krystallinischer Structur [ist]. Es sind die kleinen an der Basis sechsseitigen Höcker die diese Structur überall bedingen, kleine Bergkrystallec und die mache ich jetzt künstlig nach. So ist also die Kieselerde der Diatomeen nicht amorph wie man bisher glaubte.

[Beilage von Johannes Lachmann]

Lieber Haeckel!

Gerne beantworte ich Deine Fragen über die Acanthometren, muss nur bedauern, dass meine Antworten so gänzlich unbefriedigend ausfallen. Claparède hat in den Etudes nur mit Abbildungen z. Th.d wiederholt, was in den Monatsberichten von Müller gesagt war. Über die verschiedenen zelligen Elemente derselben sagt er nichts, über Entwicklung fehlte ihm jede Spur von Beobachtung. Claparède hält alle Stacheln für hohl, mir scheint das erst sehr zu beweisen, möchte es vielmehr bezweifeln. Über Alles was Du zu e wissen wünscht, kann ich nicht mehr sagen, Claparède schweigt darüber, Thalassicollen und Sphaerozoen haben wir nur todt in Spiritus aus dem f atlantischen Ocean gesehen von Steenstrup nur bekannte Arten – daß Du über diese höchst dunkeln Geschöpfe etwas Licht verbreiten willst, ist höchst dankenswerth, besonders freut mich, dass Du ihre Entwicklungsgeschichte förderst; nächstdem scheint es mir von Interesse, die Art ihrer Ernährung zu studiren, dazu würden wohl sehr frische Individuen, womöglich nicht mit dem Netz gefangen, sondern mit dem Heber oder Pipetted aus einem großen Glase oder dergleichen gezogen und mit viel Wasser bei schwacher Vergrößerung beobachtet werden müssen. Das pelagische Fischen mit dem engen Netz scheint mir diese Thiere zu sehr zu ruiniren, um noch eine Anstrengung wie Fressen von ihnen erwarten zu können.

Von Beckmann habe ich ganz neuerlich keinen Brief erhalten, zuletzt schrieb er leidlich über seinen Zustand gegen Neujahr. Allerdings würde ein Aufenthalt in südlichen Gegenden dem Kleinen wohl || anzurathen sein, allein die Mittel! Ist Messina gerade der geeignete Ort? nicht Palermo schon besser? ein paar junge Mediziner von hier gehen der Gesundheit halber nach Palermo, glaube Max Schultze schickt sie auch Dir einmal zu. Dr Keferstein grüße bitte herzlich von mir. Von Arbeiten über Sipunculus seit 1850 weiß ich: Krohn in Müllers Archiv 1851. Larve des Sipunculus nudus nebst Bemerkungen über die Sexualverhältnisse; sind getrennten Geschlechts; In der Leibeshöhle der ♂ schwimmen Cellenhaufen aus denen Zoospermien gebildet werden. Eier rund, äußere kernhaltige, innere facettirteh Hülle, welche bei der Furchung Wimpern erhält, in dieser die Larven. Die beiden Blasen, Oviducte Peters, geschlossen. Austritt der Eier dunkel. Gay. Historia fisica y politica de Chile. Anatomie des Sipunculus lagena nova species Darmcanal vielfach gewunden. Nervensystem Ganglienkette, letztes Glied größer. Schmarda über Bonellia. Zur Naturgeschichte der Adria.

Über Deine Seesternaugen habe ich mich sehr gefreut, Max Schultze hat mir gleich nach dem Erscheinen das betreffende Heft von Siebold und Kölliker geliehen. Auch Deinem Vater schulde ich Dank, er hat mir Deine Plexusarbeit geschenkt.

Leider hindert mich schon lange dauerndes Unwohlsein noch immer an längerem Schreiben, desshalb verzeih, dass ich schon schließe. Nachträglich noch Glückwünsche zur Verlobung, Deiner liebenswürdigen Braut habe ich sie lange ausgerichtet; als die Nachricht davon zu mir kam, war ich sehr beschäftigt durch die Geburt des ältesten Töchterchens und schob so das Schreiben auf die lange Bank. Meine Frau grüßt Dich bestens, ich hoffe, dass Du uns viel reiche Ausbeute an wissenschaftlichen Errungenschaften mitbringst. Grüße Keferstein u. sei selbst gegrüßt von Deinem Freunde

J. Lachmann

[Fortsetzung des Briefes von Max Schultze]

Den 6 Februar 1860.

Den leeren Platz benutzend schreibe ich gleich einige Dinge dazu, die ich Ihrer Berücksichtigung empfehle.

1. Die Krystalle der Blasen in Collosphaera Huxleyi, mit denen sich schon Johannes Müller beschäftigte ohne zu einem bestimmten Resultate zu kommen, würde ich gern mikrochemisch genauer untersuchen und bitte ich mir einige Collosphaeren in Spiritus u. liquor conservativus mitzubringen.

2. Die Krystalle in den Gehörblasen neben den Augenflecken der höheren Medusen, Rhizostomiden etc läßt Ehrenberg aus CaC bestehen, da sie in Säuren aufbrausen, Gegenbaur sagt sie lösen sich bei vielen Arten nicht in Säuren, u. scheinen also Kieselerde zu sein. Ist sehr wichtig und muß genau noch untersucht werden nach möglichster Isolirung der Krystalle, da dann erst die verdünnten Säuren einwirken können. Lösen sie sich wirklich nicht in Säuren so bitte ich mir davon mit zu bringen, am besten als mikroskopisches Präparat in Canadabalsam um die Krystallform genauer studiren zu können.

3. Im sogenannteni Kreidemergel von Caltanisetta kommen unendlich viele Polycystinen vor. Dieser Mergel ist tertiär, nicht Kreide, die Arten also wahrscheinlich identisch mit jetzt lebenden. Daher wäre es interessant für Sie eine Portion von diesem Gestein mitzubringen, das Sie sich leicht werden verschaffen können. In diesem Mergel ist ein sonderbares Ding, kleine sechsstrahlige Kieselsterne [Zeichnung], einzeln und in größeren || Gruppen vereinigt durch ein fein poröses Kieselgewebe. Ehrenberg hat nur die einzelnen Sternchen gesehen und Nichts daraus zu machen gewußt, das Ding gehört einer Spongie oder wahrscheinlicher einer Acantometra, Sphaerozoon oder dergleichen an. Vielleicht finden Sie was Lebendes dazu. Aber schon die Caltanisetta’er Formen müßten Sie genauer untersuchen.

4. Sie schreiben daß Sie mit dem feinen Netz Globigerinen und Orbulinen fischen. Die Dinge gehören offenbar sehr nahe zusammen. Ich habe mich schon oft über die vollständig gleiche Schalenstructur beider gewundert, und Krohn theilt mir mit, er habe in Orbulinen öfter eine Globigerina eingeschlossen gefunden. Das werden Sie auch finden, und erkläre ich die Sache so, daß die größten Kammern der Globigerinen sich einzeln als Kugeln ablösen und Orbulinen werden, wachsen, und später sich fortpflanzen, dann aber natürlich Globigerinen erzeugen. Daß die jungen lebendig geborenen Polythalamien bei der Geburt schon mehrere Kammern haben, beobachtete ich kürzlich auch an einer Rotalia von Helgoland, deren mehrere Exemplare jedesj 20–30 dreikammerige Junge zur Welt brachten.

5. In Betreff des Sammelns für das hiesige Museum bemerke ich noch daß einige kleinere Scheibenquallen (am besten die festeren Rhizostomiden oder Aequorea Arten) Beroë, die sich glaube ich gut in liquor conservativus erhalten wird, sehr erwünscht sein werden.

Schiffgelegenheit nach Antwerpen oder Rotterdam soll v. Messina recht häufig sein, u. bitte ich die ausfindig zu machen.

M. Schultze.

[Nachschrift von Max Schultze]

den 12tn Februar 1860.

Da la Valette nicht dazu kommt Ihnen zu schreiben so habe ich mir seinen Brief ausgebeten, um was ich leicht beantworten kann, noch hinzuzufügen. Die Saphirinen müssten höchst verführerische kleine Wesen sein, daß auch Sie Ihnen nachstellen. Gegenbaur’s Arbeit ist sehr genau u. ausführlich, aber wenn Sie genau histiologische Studien machen, so werden die unter allen Umständen sehr erwünscht sein, wie ja überhaupt bei nochmaliger Durchmusterung der ganzen Anatomie der Thiere die Sicherheit im Einzelnen nur gewinnen kann. Was bei Gegenbaur fehlt ist genaue Darstellungk des Gefäßsystemes, von dem er eigentlich nur das Herz kennt. Die Augen können Sie nicht oft u. genau genug ansehen, denn da giebt es immer noch zu thun, namentlich wie empfindende u. lichtbrechende Theile zu scheiden seien. Leuckart stimmt da mit Gegenbaur nicht ganz überein. Ich finde es ist besser Sie machen Ihre Beobachtungen ganz vorurtheilsfrei, genau genommen kann Ihnen auch nur der Wortlaut der Arbeiten nützen, u. abschreiben lassen sie sich doch nicht.

Mein Schwiegervater, der jetzt bei uns wohnt, hat noch eine Bitte an Sie, nämlich daß Sie auf griechische Münzen mit gutem Gepräge vigiliren und ihm für cc 5 rℓ bei vorkommenden Gelegenheiten kaufen möchten. Die bringen Sie dann || mit, denn besuchen müssen Sie mich auf der Rückreise jedenfalls. Aber was Sie für mich bisher gesammelt haben könnten Sie bald möglichst einem Schiffe nach Holland anvertrauen, damit ich die Sachen sicher zu Anfang der Sommervorlesungen habe, die ich ohne Ihre Beihülfe gar nicht würde halten können. Vergessen Sie nur auch die Polypen nicht, schöne Campanularien und Sertularien Bäume, Anthozoen aller Art auch trockne Fungia u. Madreporen, wenn Sie sie kaufen können. Dann die Bryozoen! Ascidien und Salpen, kurz eine Auswahl wie wenn Sie damit vergleichende Anatomie lesen sollten.

Meine Frau grüßt bestens. Es geht ihr wie meinen Kindern sehr gut.

Ihre Arbeit über die Seesternaugen habe ich mit großem Interesse gelesen. Sie behalten die Sache doch noch im Auge, um verschiedene Modificationen, die vorkommen könnten, festzustellen.

Nun zum Schluß. Arbeiten Sie nicht zu viel, damit Ihre Gesundheit nicht leidet und Ihre Frl. Braut sich keine Sorge macht. Ihr

Max Schultze.

Schreiben Sie bald mal wieder. Von Victor Carus habe ich trotz mehrfacher Briefe Nichts gehört.

a Textverlust durch Papierausriss, Wort sinngemäß ergänzt: die; b gestr.: oder; c korr. aus: ein neues; d eingef.: z. Th.; e gestr.: wünsch; f gestr.: Ath; g eingef.: oder Pipette; h gestr.: fazinierte; eingef.: facettierte; i eingef.: sogenannten; j eingef.: jedes; k korr. aus: Dastellung

Brief Metadaten

ID
44404
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Königreich Preußen
Zielort
Zielland
Italien
Datierung
06.02.1860
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
2
Umfang Blätter
5
Format
13,5 x 20,7 cm; 14,1 x 22,4 cm; 13,8 x 21,8 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 44404
Illustrationen
egh. Zeichnungen auf S. 2 und 3
Zitiervorlage
Schultze, Max; Lachmann, Johannes an Haeckel, Ernst; Bonn; 06.02.1860; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_44404