Haeckel, Carl Gottlob; Haeckel, Charlotte

Carl Gottlob Haeckel an Bertha Sethe sowie Karl, Hermine und Ernst Haeckel, Bad Eilsen, 6. 10. Juli 1856, mit Mitteilung von Bertha Sethe bei Weiterleitung des Briefes

Eilsen Sonnabend 6 Juli

56.

Liebe Bertha und liebe Kinder!

Gestern Vormittag haben wir unser neues Quartier bezogen. Gegen Mittag stellte sich das Fieber ein, als eben der Doktor bei uns war, Lotte legte sich zu Bett, wartete Frost und Schweiß ab und blieb auch liegen, Abends zum Schlafengehen las ich ihr vor. Gestern Vormittag hat sie nicht Molke getrunken, aber gebadet. Das Bad thut ihr immer gut. So eben sind wir eine Stunde spatzieren gewesen und nun fühle ich Lust etwas nieder zu schreiben. Heute ist ein Brief an Ernst abgegangen, den ich Gestern geschrieben. Er hatte Angst, ob wir auch seinen und Karls Brief zu Mutters Geburtstag nebst den dazu gehörigen Sachen erhalten haben würden. Es ist aber alles richtig von Nenndorf wo das Postamt avertirt war hieher gekommen. Unser jetziges Quartier liegt sehr hübsch, nicht weit von den Bade- und Logir-Häusern, durch eine schöne Wiese und einen hübschen Bach getrennt, die wir zum Trinken und Baden paßiren müßen. Vor unserem Hause einige schöne große Bäume unmittelbar an der Wiese, die unser Haus von Westen und Norden umgiebt. Auch eine Bank unter den Bäumen, um an der schönen Wiese zu sitzen. Aber der Himmel ist uns nicht hold, seit 8 Tagen trübes, regnigtes Wetter, kaltes Octoberwetter, die Zimmer kalt ohne Oefen, ich sitze immer in doppelter oder dreifacher Kleidung! Seit 2 Tagen ist die Luft etwas beßer, aber Sonne und Wärme fehlt. Ein Fremder, der in diesen Tagen aus der Schweitz kam, wunderte sich über dieses Wetter, indem es in der Schweitz hübsch warm gewesen. Der deutsche Norden verläugnet sich nicht, wir haben keinen Sommer. Die Zeit füllen wir an den Vormittagen zum Theil mit Baden, sonst mit Plaudern, Lesen und Spatzierengehen aus. Unser Haus ist zugleich Gasthaus, wo wir für die Hälfte des Preises an der großen table d’hôte mit recht hübschen Leuten zusammen eßen. Verkehr mit der großen Welt, die hier meist aus Oldenburgern, Hansestädtern und Holsteinern besteht, suchen wir nicht. Die schöne Natur gewährt uns auf den Spatziergängen großen Genuß, wir bliken mit großem Behagen in die stark bewaldeten Berge, fast lauter Buchenwälder. Gestern versuchte ich allein in die Wildniß zu dringen, die Wege waren sehr beschwerlich, da es in den letzten 8 Tagen öfters geregnet hatte. Kommt man aber tiefer in das bergigte Terrain hinein, so findet man schöne sich ausbreitende Buchen unter denen es sich gut geht, weil die Buche kein Unterholz duldet. Am Saum der Berge liegen die Bauernhöfe in westphälischer Bauart. Ich gieng gestern in den Einen hinein und fand darin 4 Schneider sitzen, die den jährlichen Bedarfa für die Bauernfamilie arbeiteten. Sonst macht das schlichte Bauernvolk einen sehr angenehmen Eindruck, dieses einfache Leben contrastirt sehr mit unserm Civilisationsleben voll Durchbildung, vielseitiger Ausbildung, vielfältiger Laster und Auswüchse. Es ist doch sehrb gut, daß sich das einfache, gesunde Leben in unserm Bauernstand so erhält und seiner ganzen Beschäftigung nach auch erhalten muß, und ich möchte diesen Bauernstand um keinen Preiß vermißen. – Mit dem Perthes sind wir ziemlich durch. Wir lesen in der Friederike Bremer. Sie zeigt uns die besten Seiten der Nordamerikaner, besonders in den Bostoner Zirkeln und man ahnt wo da die Kultur hinaus will? Diese in die Welt hinausgegangenen oder hinausgestoßenen Europäer hat die Noth unternehmend gemacht und die Jugend wächst im Unternehmungsgeist auf, ein ganz andres Geschlecht als die Europäer. Die wohlhabenden kommen im Anfang des Sommers, wenn sie deutscher Abstammung sind, nach Deutschland, besehen sich die schönen Städte und Gegenden und kehren zum Herbst nach Amerika zurück. Die jungen Deutschen, besonders aus den Hansestädten, gehen hinüber, um sich dort einige || Jahre umzusehen und Geschäfte zu treiben, die Reiselustigen aller Länderc wollen Amerika kennen lernen, der Handel endlich feßelt beide Erdtheile zusammen und so erzieht ein Erdtheil den anderen. In den Bostoner Zirkeln wird viel philosophirt über die Ausbildung der Menschheit und den Zweck des Erdenlebens und da können wir Europäer manches lernen. Wir haben besonders damit zu kämpfen, um der freien Entwikelung des Menschen, die in Amerika ungehindert vor sich geht,Terrain zu verschaffen. Sodann hat sich bei uns alles in bestimmten historisch gebildeten Maßen gestaltet, es ist viel mehr Mannigfaltigkeit unter den Völkern, die Slaven haßen die Germanen und Romanen, die Herrschaft wechselt in den großen Staaten und die Völker müßen kriegsgerüstet sein und sich schlagen, wenn sie in ihrer Individualität nicht untergehen wollen. In Europa haben die Volksmaßen seit Jahrhunderten in der Sklaverei gelegen und sind im Begriff, sich erst zur Freiheit heraus zu arbeiten, da hat der Amerikaner, dem die Freiheit vorn weg gegeben ist, und der von uns die höhere Kultur empfängt, gut reden. Wir haben dagegen eine alte Bildung, die schon einen bedeutenden Cursus durchgemacht hat und in fortdauernder Entwikelung begriffen ist. Das will auch etwas sagen, da mögen die Amerikaner von uns lernen. Unsre innre Staatsentwikelung geht langsam in großen Kämpfen, ich liebe gewiß die Freiheit, aber ich liebe doch auch mein Fürstengeschlecht und denke viel an das, was der junge Friedrich Wilhelm mit seiner jungen englischen Prinzeßin durchzumachen haben wird. So viel Widerliches und Aergerliches es bei uns giebt man ist doch einmal in Land und Volk verwachsen und die inneren Kämpfe bilden einen großen Theil unseres inneren Staatslebens. Sie sind ein Element unseres Lebens, ohne welches wir versauern würden. Ich denke also: meine Kinder bleiben vorläufig in Europa! Ich erwarte von Amerika nicht die Mannigfaltigkeit, die in Europa ist und die unsere europäische Geschichte so intereßant macht. Die Staaten, in welche Nordamerika früher oder später zerfällt, werden viel gleichartiger sein, den Haupttypus bilden die Yankees (Nachkommen der Engländer). Welche Mannigfaltigkeit in Europa! Dieses gestaltet sich immer mehr in einem großen Verein der verschiedenartigsten Völker, wie noch der neueste Congreß in Paris gelehrt. Die westlichen Völker sind im Uebergange zur constitutionellen Freiheit begriffen, sie erkennen eine Monarchie an mit starker Exekutivgewalt. Sie wollen aber nach Gesetzen regiert sein, die sie mit machen helfen und damit sie ausgeführt werden, müßen die Minister verantwortlich sein, die Willkühr muß aufhören. Die frühere Aristokratie bildet sich allmählich zu einem Oberhause als vermittelndes Glied zwischen König und Volk. Das Oberhaus repräsentirt das große unbewegliche, in den Familien bleibende Grundeigenthum, im Gegensatz des beweglichen Geldeigenthums und der sich immer wieder verjüngenden fortschreitenden Bildung. Das Unterhaus ist die eigentliche Volkskammer. Wir haben in Deutschland ins besondre in Preußen seit dem Jahr 1848 große Fortschritte gemacht. Der Sinn für Justiz und Recht ist gewachsen durch die parlamentarischen Formen und grade durch die Willkühr der Junkerparthei. Man muß den einzelnen Moment in der Geschichte immer im Zusammenhange der fortschreitenden Entwikelung sehen, dann erkennt man seine Bedeutung, dann verliert er sein widerliches. Wir sind in Preußen viel weiter als die Franzosen, die immerfort zwischen den Extremen schwanken und den Gleichgewichtspunkt nicht finden können. Frankreich hat seine Vergangenheit ganz abwerfen wollen, das geht nicht; ein Volk kann seine vorgängige Geschichte nicht ganz verläugnen. Das Leben eines Volks ist ein fortschreitender Entwikelungsproceß und was vom alten Stamm gesund ist und nicht ganz entwurzelt, schlägt früher oder später in neue Zweige oder Blätter aus. Das mögen sich die Radikalen merken, die keine Vergangenheit gelten laßen wollen. Die verschiedenen Generationen eines Volks haben bei aller Verschiedenheit, die das Lebensalter eines Volks mit sich bringt, doch eine Einheit des Bewußtseins, die wie ein Faden durch alle Generationen geht. Ein Volk ist eben ein großes Individuum, ein großer Mensch, das denselben Gesetzen unterworfen ist, wie der einzelne Mensch. Die Kriege mit den übrigen großen Individuen (Völkern) befördern eben seine Entwikelung und sind nothwendig dazu. Die Völker bilden sich aneinander aus, dazu nun noch das neue, große ungeheure Verkehrsmittel, die Dampfkraft, welche die ganze Welt umgestalten wird. Gott spricht in der Geschichte, wenn man ihn nur sehen will, auf das allervernehmlichste. Nicolaus war ein sehr bornirter Mensch, dafür habe ich ihn immer gehalten. Er wollte die Entwikelung seines Volks hemmen, blos um es ganz eigenmächtig regieren zu können. Volksentwikelung war ihm ein Gräuel, da fängt er in seinem Uebermuth und Wahnsinn den Krieg wegen der Türkei an. || Was geschieht? Grade der Krieg zeigt, daß Rußland innerlich ganz gelähmt ist, daß es sich nicht mehr rühren kann. Nun müßen die Schnürbänder abgenommen werden, die Eisenbahnen werden den innern Verkehr entwikeln, die Menschen werden zusammenkommen, sich mittheilen, sich ihrer bewußt werden und ein weit größeres Nationalleben wird sich entfalten. Nicolaus war dazu da, um die Falschheit und Verkehrtheit seines Systems darzuthun. So kehrt Preußen mit seiner jetzigen Regierung ebenfalls eine ganz falsche Seite heraus. Es legt sich überall Ketten und Feßeln an, die ihm abgenommen werden müßen, wenn es nicht untergehn will. Preußen ist der Repräsentant des Patriotismus in Deutschland mit aller Geistesentwikelung, die dieser mit sich bringt. Versteht es diese Bestimmung, dann ist es stark in Deutschland. Oesterreich will seine Völker durch den katholischen Priesterstand zusammenhalten, dadurch entfremdet es sich von Deutschland, uns Preußen kann das Concordat der Oesterreicher ganz willkommen sein. Preußen hat seit seinem Entstehen einen kriegerischen Geist entwikelt, den darf es nicht verläugnen. Es ist der Vorkämpfer Deutschlands gegen den Westen und gegen den Osten. Die Kriege gegen Rußland (das Slavenreich) werden künftig in den Vordergrund treten. Die Schwäche Oesterreichs liegt in dem bunten Gemisch seiner Völker. Es ist allein nicht stark genug gegen Rußland, welches eine compakte Einheitsmaße von beinah 40 Millionen Rußen besitzt. Dadurch ist Preußen ein Bedürfniß für Europa, welches die Herrschaft der Slaven nicht ertragen kann. England ist Preußens natürlicher Alliirter, es ist nicht stark zu Lande und seine Intereßen vertragen keine Universalmonarchie auf dem Kontinent, komme sie von Westen oder Osten. Preußen darf nur Muth haben, dann hat es auch seine Alliierten in und außerhalb Deutschlands. Jetzt wird es von der Feigheit regiert, darum ist es für den Augenblik ohne Bedeutung. Das westliche Europa fühlt diese Lüke. In Preußen muß das Volk kriegerisch sein, es muß wie Ein Mann da stehn in der Zeit der Noth, das ist die Bedeutung der Landwehr. In Preußen kann nur der Mann etwas gelten, der schlagfertig ist. Das sichert unsre Freiheit im Innern. Wer durch den Körper verhindert ist, mag sich geistig rühren. Wenn Preußen in Deutschland vorangeht, dann fallen ihm die übrigen von selbst zu. Aber es bedarf dieser auch, weil es ihm an materieller Größe fehlt. Es ist nur eine Großmacht mit und durch Deutschland, es muß sich dieses innern Zusammenhangs mit Deutschland stets bewußt sein. Gegenwärtig ist es krank, es liegt in einer innern Agonie, die Zeitumstände werden sie wohl zu seiner Zeit vertreiben. Sie steht im Zusammenhang mit den innern Durchgangspunkten deutscher Bildung. Das zu rationalistisch seicht gewordene Deutschland bedurfte einer innernd Erfrischung. Das religiöse Bewußtsein, das Verständniß des Christenthums war zu sehr in den Hintergrund getreten; indem es wieder lebendig werden will, können es die Menschen noch nicht begreifen, weder die Rationalisten noch die Pietisten. Es giebt mehr Christenthum in der Welt als man glaubt. Europa ist durchdrungen davon, aber die Rationalisten wollen es nicht erkennen und die Pietisten suchen es in Dingen die dem Christenthum fremd sind. Das fortwährende Streben nach Anerkennung der Menschenrechte ist ein Produkt des Christenthums. Die Alten, die Muhammedaner die e Heiden haben es nicht. Unsre unmittelbare Beziehung zu Gott, unser täglicher Verkehr mit ihm, unser Familienleben, wie wir es von ordentlichen Menschen fordern, unsere Ehe mit ihren Rechten und Pflichten, wie sie noch täglich anerkannt werden, sind aus dem Christenthum hervorgegangen. Die Völker fordern die Anerkennung ihrer Eigenthümlichkeit als ein Recht, das ist christlich, die Alten, die Heiden, die Muhammedaner erkennen es nicht. Das Christenthum ist allem Kastengeist entgegen, es will nur einen natürlich aus Beschäftigung und Bildung hervorgehenden Unterschied der Stände. Die französische Revolution, indem sie aus einer innern Berechtigung hervorging, artete bald aus und wollte alles gleich machenf, auch das verschiedenartigste. Die Junker dagegen wollen das Kastenwesen. Sie erkennen in dem Niedrigsten nicht den Menschen, er soll ihr Sklave sein. So arbeitet sich rechts und links alles ab und durch, in diesen Kämpfen liegt das Leben der Menschheit. Das Christenthum ist eine unvergängliche Quelle alles innern Lebens. Wenn man sie versiegt glaubt, sprudelt sie an vielen Stellen wieder hervor. Welche ungeheure Kraft liegt in demselben, da es fähig war, die Menschheit in den noch brach liegenden Völkern neu zu gestalten, und sich durch die Reformation zu verjüngen. Aber was machen jetzt die Pietisten daraus: eine wahre Karrikatur! Die Rechtfertigung durch den Glauben besteht in der innern Anerkennung des innerenh göttlichen Wesens Christi, wie es im neuen Testament ausgesprochen ist und in der Aneignung dieses Wesens, so daß es ins Handeln übergeht. Dieses alles im Gegensatz der äußeren Werke, wie sie im Pharisäertum und Katholicismus erscheinen. Diese innre Aufnahme Christi in uns selbst erfordert eine strenge Arbeit und eine göttliche Hülfe. Die letztere stellt sich ein, wenn der Mensch zu arbeiten nicht abläßt. So verstehe ich das „Klopfet an, so wird euch aufgethan.“ Auch große Ereigniße, die den einzelnen Menschen betreffen, schließen ihm oft sein Innres auf. Da gehn Dinge in ihm vor, da tritt ein Bewußtsein in ihm hervor, was er früher nicht geahnt hat. Nicht allen wird dieses zu Theil, aber die innre Arbeit, durch die wir zu Gott kommen, liegt allen ob. – Die Bremer erzählt einmal von || Channing, der an der Spitze der Unitarier in Amerika gestanden hat. Er hat das Göttliche im Menschen erkannt und es im Leben in der Menschheit verwirklichen wollen. Aber er ist darin einseitig, daß er das Sündige im Menschen zu gering anschlägt und zu sicher ist, deßen Meister zu werden. Die göttliche Gnade ist ihm zu wenig Bedürfniß. Der Mensch soll zu viel durch sich selbst sein. Ganz umgekehrt unsre Pietisten. Das sind weichliche Kreaturen, die alles von göttlicher Hülfe erwarten, ohne selbst Hand anzulegen. Das Handeln wird ihnen ein äußeres Geklingel ohne Saft und Kraft, die Phantasterei und der äußere Gottesdienst soll das Handeln ersetzen. Das ist freilich viel bequemer als die Leidenschaften bekämpfen. Darum zeigt auch ihr Regiment lauter Verkehrtheit und Feigheit. An die Stelle des wahren Selbstbewußtseins tritt i eitler Hochmuth, sie ruhen auf weichen Polstern und fliehen die dornigen Pfade. Einen wahrhaft Kämpfenden verläßt Gott nicht, er schikt ihm Stärkung zu. Dieses Karrikatürliche der Pietisten wird in sich zu Schanden werden, aber es muß erst durchgemacht werden, um seine innre Nichtigkeit zu zeigen. Sieht man den Geist Gottes durch die Weltgeschichte wirken, dann bekommt man Respekt vorm lieben Gott, der Mensch sieht sich dann in seiner Kleinheit, Verkehrtheit und Nichtigkeit, und versenkt sich in Demuth. Die Demuth der Pietisten ist eine falsche, geheuchelte, sie ist mit dem tiefsten Hochmuth verbunden. j Diese Hochmüthigen sind ihre Begnadeten, denen der liebe Gott das Weltregiment verliehen haben soll. O ihr Lügner, euch am wenigsten! Die Regierung der Welt hat sich Gott vorbehalten, er braucht dazu die Guten so gut wie die Schlechten. Zu der Regierung in uns selbst müßen wir zuerst unsre eignen Kräfte anstrengen, dann kommt Gott mit seiner Stärkung und Hülfe. –

Den 10 Juli. Wir lesen fortdauernd in dem Werke der Bremer. Es ist doch ein großer Kontrast zwischen den nördlichen und den südlichen Staaten Nordamerikas, in jenen die Freiheit, in diesen die Sklaverei. Über diese ist die Bremer ganz empört, sie hat ihren Enthusiasmus etwas abgekühlt. Spricht sie aber über die nördlichen Staaten, so ist sie voller Entzüken. Die freie Entwikelung so vieler Millionen menschlicher Kräfte gewährt freilich ein eignes Schauspiel und Europa kommt einem vor, wie ein großes Volk in Kinderschuhen, in dem noch sehr wenig Entwikelung vorhanden ist. Beinah 1000 Jahr hat Europa in Aberglauben und Verdumpfung geschmachtet. Das Schönste, das es geboren, hat es nach Amerika gesandt und dort hat sich seit mehreren 100 Jahrenk alles in der größten Freiheit entwikelt. Das giebt einen ungeheuren Contrast. Wenn ich mir unser Preußen ansehe, wo mehrere große und gute Regenten das Volk bevormundet haben, und die Vormundschaft eben aufzuhören beginnt, da kann freilich von einem solchen freien Selbstbewußtsein, wie in Amerika nicht die Rede sein. Die Bremer stellt Nordamerika sehr einseitig dar. Man lese den Busch, der viel mehr in Verkehr mit allen Klaßen des Volks gerathen ist, und die Rohheit und der Materialismus treten viel greller hervor. Wenn man die Bremer liest, so sind die nördlichen Staaten Amerika’s das eigentliche Land der menschlichen Entwikelung und Europa liegt in Rohheit und Unkultur darnieder, wenige bevorrechtete Klaßen abgerechnet! Und doch kommen die gebildeten Nordamerikaner nach Deutschland und erfreuen sich hier der höheren Kultur, bringen ihre Kinder nach Deutschland, um sie hier erziehen zu laßen. Das hätte die Bremer doch auch erwägen sollen, wenn sie Amerika so erhebt und preist. Dazu kommt daß ihr die Amerikaner, die sehr eitel sind, den Hof gemacht haben, damit sie in ihren Schriften recht viel Gutes von Amerika erzählen soll. Das weite Nordamerika bietet einen ungeheuren freien Tummelplatz für die Entwikelung aller menschlichen Kräfte, in Europa ist das Terrain meist schon besetzt. Da muß sich jeder in einem beschränkteren Kreise ausbilden. Das wird in Amerika auch eintreten, wenn es stark bevölkert sein wird. Da wird es viel mehr abhängige und gewißermaßen unfreie Menschen geben als jetzt bei uns. Gewiß wird Amerika brillante Seiten menschlicher Entwikelung darstellen. Der Contrast mit unserem gebundenen Leben wird uns unsre Kindheit und Beschränktheit zeigen. Aber wir arbeiten doch stark daran, darüber hinauszukommen. Wo viel freies Terrain, da sind die Stände weit weniger geschloßen oder vielmehr, es giebt da noch keine, die natürlichen Stände fehlen noch wie sie aus Stadt und Land, aus Beschäftigung mit Ackerbau, Handwerkfabrikation, Handel Wissenschaft hervorgehen. Diesen natürlichen Ständen stehen wir viel näher. Wir dürfen nur das Hemmende, was sie kastenartiger scheiden will, hinwegschaffen. Und dann fehlen in Amerika die großen Völkerindividualitäten, die bei uns den Krieg von Zeit zu Zeit zu einer Naturnothwendigkeit machen, der uns der Verweichlichung entreißt, uns Selbstbewußtsein und Vaterlandsliebe giebt, den Amerikaner bewahrt der Unternehmungsgeist in dem weiten halbbewohnten Lande vor der Verweichlichung. Kurz: beides Amerika und Europa sind erst in einer großen Entwikelung begriffen, und die geht nicht so schnell, dazu gehören Jahrhunderte. Wenn man die Zustände der weitläufigen südlichen Staaten und des Mississippi Gebiets in Amerika schildern sucht, dann wird man nicht sehr erbaut davon, aber es wird auch dort beßer werden. Noch ein Hauptunterschied: Europa hat kein Tropenklima, es ist, wie Ritter sagt, alles harmonischer, für die Ausbildung der Menschheit günstiger (was die Bremer nicht zugestehen will)! Die südlichen Staaten in Amerika müßen sich durch Afrika ergänzen, denn die Neger taugen vorzugsweise zur Bearbeitung des Landes, zur Kultur des Reis und der Baumwolle. Die südlichen Staaten werden also stets eine Bevölkerung aus sehr ungleichen Bestandtheilen: Neger und Nachkömmlinge der Europäer haben. Die letzteren werden immer ein großes Uebergewicht gegen den Neger haben, auch wenn dieser frei wird. Er wird aber die dienende Klaße bilden auf großen, zu Plantagen geeigneten Felderstücken. Dagegen arbeitet sich in Europa ein freier Bauernstand immer mehr heraus. Die Vergleichung und Beobachtung der neuen und alten Welt wird in Zukunft ein großes Thema bilden und beide Welten werden voneinander lernen können. – Bei der völligen Freiheit in Amerika hat der Rationalismus in den nördlichen Staaten ein großes Terrain gewonnen. Die zum Fanatismus geneigten Methodisten und Baptisten gehen frei nebenher. Letztere haben das Christenthum unter die Neger gebracht, die es mit Wärme aufgenommen haben. ||

So finden sich die Gegensätze, welche aus den ursprünglichen Anlagen des Menschen hervorgehenl, überall. Der Demokratismus (in den nördlichen), der Aristokratismus (gleich unsern Junker in den südlichen Staaten), die Aufklärung und der religiöse Fanatismus. Die Kämpfe dieser verschiedenartigen Elemente mit ihren Extremen bilden das Leben und die Geschichte. In Europa kommt noch der despotisirende Absolutismus hinzu. Nun genug des Plauderns und nun etwas von unserem hiesigen Leben.

Wir sind heute 14 Tage hier, eine etwas schwere Zeit besonders für unsere Lotte. Der Doktor v. Möller mit dem wir sehr zufrieden sind, hat das Fieber bis heute gehen laßen. (Lotte liegt eben im Schweiß). Nun aber tritt er dem Uebel entgegen und Lotte bekommt jetzt eben zum 1sten Mahl Medicin gegen das Fieber. Sie hat wenigsten 6 Fieberanfälle gehabt, (oder 7 der erste ist ungewiß). Gewöhnlich braucht sie 8 Stunden dazu, etwas über 1 Stunde Frost, dann einige Stunden Hitze, dann kommt der Schweiß, den sie im Bette abwartet. Das Fieber kam über den andern Tag, gewöhnlich einige Stunden früher. An den freien Tagen hat Lotte fortdauernd gebadet im Schwefel, was sie sehr gern thut und was ihr immer gut bekommt. Sie ist gewaltig herunter und das Gehen wird ihr schwer. Auch hat sie wenig Appetit. Ich lese ihr viel vor. An den freien Tagen spaziert sie wohl etwas in den Promenaden. Um 6 Uhr früh wird aufgestanden, bis gegen 8 Uhr in der Promenade bei den Güßen, wo ich Waßer trinke. Um 8 Uhr gefrühstükt, um 10 Uhr ins Bad gleich nach dem Baden etwas promenirt, geschrieben und gelesen. Um halb 1 Uhr zu Tisch an der Wirthstafel im Hause, wo wir neben einigen recht hübschen Leuten placirt sind. Nach Tisch ein Schläfchen. Um 3 Uhr Caffee und gelesen bis 5 Uhr. Sodann gehe ich bis 7 Uhr spatzieren. An guten Tagen geht Lotte etwas mit. Gegen Abend wieder gelesen, etwas Abendbrod gegeßen, um 10 Uhr schlafen gegangen. Dabei wache ich, daß Lotte sich nicht erkältet. Sie folgt dem Arzt pünktlich. Sie sehnt sich sehr nach Beßerung. Sobald diese etwas fortschreitet, wird ihre Badekur stärker vorgenommen werden. Vor Ende dieses Monats werden wir wohl nicht wegkommen, wir bleiben alsom noch 3 Wochen hier. Wenn nur das Wetter erträglich ist, sind wir sehr zufrieden. Dieser Tage war es wieder sehr schlecht, wieder Regen und Sturm, dennoch mache ich meine Spatziergänge mit Ueberzieher und Regenschirm. Ich suche mir immer neue Wege auf. Gesternn auf einer hübschen Chaussee nach dem Weserthal, was mir sehr gefallen hat, in die Nähe von Rinteln, eine starke Stunde von hier, durch schöne Laubwälder, die von schönen Wiesen und fruchtbaren Feldern bekränzt werden. Vorgestern in eine Colonie, wo man Kaffee trinkt, vor vorgestern in den Wald auf die Berge. Die Natur ist hier schön wenn wir nur beßeres Wetter hätten, doch giebt eso einzelne hübsche Stunden. Von den übrigen Badegästen sehen wir wenig. Das Spiel in Nenndorf zieht sehr viele an. So werden wohl, da wir gut mit Büchern versehen sind, die paar Wochen vergehen und wenn es Lottens Gesundheit zuläßt, machen wir die Reisen noch nach unserem Planp. Gestern kam ein Brief von Tante aus Aurich, die uns eingeladen hat. Vorgestern war Hermines Geburtstag, heute ist Hermännchens, da denken wir sehr oft an Euch. Julius und Frau werden sich nun wohl in 8 Tagen auf die Reise begeben. Wie lauten denn die Nachrichten aus Carlsbad? Wie geht es Dir liebe Bertha? Diese Natureinsamkeit hier contrastirt doch recht mit dem Berliner Lärm und Getreibe. Hier die schöne Natur, die uns an die Vorzeit erinnert und das einfache Bauernleben! Ist nur erst Lotte wieder etwas auf den Beinen, dann wollen wir einige Excursionen zu Wagen in schöne Gegenden machen. Bükeburg ist 1 Stunde von hier, von da fährt man in ¼ Stunde nach Minden per Eisenbahn. Das freundliche Quartier, was wir jetzt haben, erleichtert uns das Leben sehr. Vorgestern war Ball im Salon, wo etwa 16–20 Paare tanzten, meist Damen aus den Seestädten, die Tänzer sind Officiere aus Minden und Bükeburg. Der Fürst ist sehr wohlhabend, ein guter Wirth, Sr. Durchlaucht nebst Familie kommen manchmal her. Er hat für Eilsen viel gethan, ein hübscher Park umgiebt die Logir- und Badehäuser. Doch auch die Privatquartiere sind nicht schlecht. Wer hieher kommt, sucht Wiederherstellung seiner Gesundheit und findet an Hℓ. v. Möller einen sehr guten Badearzt. – Lotte kann heute nicht schreiben, sie liegt noch zu Bett. Ich pflege sie, so gut ich es vermag. Sie läßt Euch alle herzlich grüßen.

Euer Alter

Hkl

[Mitteilung von Bertha Sethe bei Weiterleitung des Briefes]

Den 13/7.

Wieder folgt dieser nette lange Brief von dem liebenswürdigen alten Vater. Wenn wir nur erst ganz gute Nachrichten aus Eilsen hätten. Das dumme Fieber konnte auch nicht ungelegener kommen, und das Wetter hat sich just maleur für eine Badekur eingerichtet. Wie geht es Euch denn, sieht man Dich ein Mal, Karl? Theodor war in der vergangnen Woche hier, der seine Mutter gern sprechen wollte, er hat für den August Urlaub, den er zu einer Reise nach Bonn benutzen will. Juliusens rüsten sich. Aus Karlsbad weiß ich nichts, ich will nach Heidelberg schreiben. Gertrude ist am Donnerstag Abend abgereist, sie hat noch eine Tasse u. Theelöffel für Herman hier gelassen, ich dachte ich wollte es Karl mitgeben, es ließ sich beim Kuchen nicht packen, und nachher kam sie vor allen Reisevorbereitungen zu nichts anderm. Mir geht es gut, sehr einsam das mir aber sehr behagt. Küßt die Jungens und habt lieb

Eure alte Bertha.

a gestr.: Weihnachts; eingef.: den jährlichen Bedarf; b eingef.: sehr; c eingef.: aller Länder; d eingef.: innern; e gestr.: Türken; f eingef.: machen; g eingef.: machen; h eingef.: innern; i gestr.: lauter; j gestr.: Nur die B; k eingef.: seit mehreren 100 Jahren; l eingef.: gehen; m gestr.: dann; eingef.: also; n korr. aus: Vorgestern; o eingef.: es; p eingef.: nach unserem Plan

 

Letter metadata

Datierung
10.07.1856
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 44133
ID
44133