Ernst Haeckel an Heinrich Eggeling (Kurator), Jena, 16. Oktober 1889

Abschrift. C. 1770. pr. 17./X.89.

Bericht von Professor E. Haeckel | betreffend die Besetzung der erle-|digten Ritter-Professur für Phylogenie | an der Universität Jena.

Jena, den 16. Okktober 1889.

Hochgeehrtester Herr Curator!

Nachdem die hiesige, 1886 begründete „Ritter-Professur für Phylogenie“ durch die Berufung ihres bisherigen Inhabers, Professor Dr. Arnold Lang, nach Zürich, erledigt worden ist, beehre ich mich, Ihnen zur Wiederbesetzung derselben die folgenden Vorschläge zu unterbreiten, mit der ergebensten Bitte, für dieselben die hohe Genehmigung der Durchlauchtigsten Erhalter erwirken zu wollen. Es sind für die vacante Stelle nicht weniger als zwölf Candidaten in Frage gekommen; nach reiflicher Erwägung, und in gerechter Würdigung aller in Betracht kommenden Verhältnisse, glaube ich zwei hiesigen Privatdocenten, Dr. Kükenthal und Dr. Semon, den Vorzug vor den übrigen zehn Candidaten geben zu müssen.

I. Dr. phil. Wilhelm Kükenthal, welchen ich an erster Stelle empfehle, 28 Jahre alt, (aus Coburg) hat sich im Frühjahr 1887 in der hiesigen philosophischen Facultät habilitirt; er || war vorher Assistent am hiesigen zoologischen Institute. Das Nähere über seinen Studien-Gang, sowie das Urtheil der philosophischen Facultät über seine Befähigung, ist in deren Habilitations-Acten enthalten. In den vier Semestern, in welchen er hier zoologische Vorlesungen hielt, hat er sowohl gutes Lehrtalent als auch besondere Befähigung und Neigung für den technisch-praktischen Unterricht im zoologischen Laboratorium bewährt. Auf zwei größeren Reisen nach Norwegen und Spitzbergen hat er sich ausgedehnte faunistische und systematische Kenntnisse erworben, sowie eine reiche Fülle von jener unmittelbaren und vielseitigen Natur-Anschauung, welche der junge Naturforscher sich nur durch größere Reisen aneignen kann. Die zweite Reise nach Spitzbergen, welche er im März des Jahres gemeinschaftlich mit Dr. Alfred Walter (meinem Assistenten am zoologischen Institute) antrat, hat das letzte Sommerhalbjahr in Anspruch genommen; beide Herren sind erst vor wenigen Tagen von dieser Expedition nach Jena zurückgekehrt. Anfänglich durch ungünstige Verhältnisse sehr behindert, erlitten sie am 12. Juni d. J. an der Ostküste von Spitzbergen Schiffbruch, wobei das Schiff verloren gieng; Mannschaft und Sammlungen wurden gerettet. Von einem anderen Walfischfänger aufgenommen, setzten sie ihre Forschungsreise mit glücklichstem Erfolge fort, und wurden für ihre unermüdlichen Anstrengungen durch eine Reihe von wichtigen zoologischen und geographischen Entdeckungen, in einem wissenschaftlich noch nie untersuchten Theile des Polar-Meeres, belohnt. Die Umsicht, Energie und Ausdauer, mit welcher Dr. Kükenthal diese gefahrvolle und höchst beschwerliche Forschungs-Expedition leitete und durchführte, ist des höchsten Lobes werth.

Die wissenschaftlichen Arbeiten, welche Dr. Kükenthal bisher publicirte, betreffen zum größten Theil die Anneliden; sie enthalten werthvolle Beiträge zu deren Anatomie und Histologie, Ontogenie und Systematik. Viel wichtiger jedoch versprechen die großen Arbeiten zu werden, welche derselbe seit zwei Jahren über die Anatomie und Ontogenie der Walfische begonnen hat. Zwei größere Abhandlungen darüber, von denen die eine das Gehirn, die andere das Skelet der Cetaceen betrifft, sind mir durch Vorträge bekannt, welche Dr. Kükenthal in der hiesigen medicinisch-na-||turwissenschaftlichen Gesellschaft darüber gehalten hat; sie werden jetzt in den Denkschriften dieser Gesellschaft, welche dazu eine Subvention von eintausend R. Mark bewilligt hat, gedruckt. Das neue Cetaceen-Material, welches derselbe auf seiner letzten Reise gesammelt hat, verspricht noch weit ausgedehntere Aufschlüsse über die wenig bekannte Naturgeschichte dieser größten unter allen lebenden Thieren.

II. Dr. med. et phil. Richard Semon, welcher an zweiter Stelle sich für die vacante Ritter-Professur eignen würde, cc. 30 Jahre alt, (aus Berlin), hat sich im Herbst 1887 in der hiesigen medicinischen Facultät habilitirt und ist gegenwärtig erster Assistent am hiesigen anatomischen Institute. Das Nähere über seinen Studien-Gang, sowie das Urtheil der medicinischen Facultät über seine Befähigung ist in deren Habilitations-Acten enthalten. Obwohl Dr. Semon zunächst die anatomische Laufbahn betreten hat, ist er doch durch seine früheren zoologischen Studien, sowie durch seine besondere Vorliebe für vergleichende Anatomie, ebenso befähigt als geneigt, die erstere mit der zoologischen zu vertauschen. Eine größere Arbeit über || Synapta digitata, und die daran geknüpften Untersuchungen über Phylogenie der Echinodermen, gehören zu den bedeutendsten Leistungen, welche auf diesem äußerst schwierigen Gebiete der Zoologie überhaupt bisher erschienen sind. Sowohl die Vollständigkeit der bezüglichen anatomischen und ontogenetischen Beobachtungen, wie die Klarheit der trefflich geordneten Darstellung, vor allem aber die Tiefe, die kritische Schärfe und der Gedanken-Reichthum der daran geknüpften phylogenetischen Speculationen, verdienen das höchste Lob und lassen diese ausgezeichnete Arbeit als eine Leistung ersten Ranges erscheinen. Außer diesen und anderen morphologischen Arbeiten ist auch das bewährte Lehr-Talent von Dr. Semon rühmlichst hervorzuheben, sowie der weite Gesichtskreis seiner Natur-Anschauung, für welche namentlich eine größere Reise im tropischen West-Afrika (am Niger und Benué) sehr ergiebig gewesen ist. Hinsichtlich der gründlichen anatomisch-physiologischen Ausbildung, welche mit dem vollendeten Studium der Medicin verknüpft ist, würde Dr. Semon vielleicht den Vorzug vor Dr. Kükenthal verdienen; anderseits aber ist dieser letztere dem er-||steren wieder durch reichere systematische und faunistische Kenntnisse überlegen. Bei unparteiischer Abwägung aller in Betracht zu ziehenden Verhältnisse scheint es völlig gerechtfertigt. Dr. Kükenthal primo loco, demnächst Dr. Semon secundo loco zu empfehlen. Dies ist auch übereinstimmend die Ansicht der sachkundigen Collegen, mit denen ich diese Angelegenheit besprochen habe, der ordentlichen Professoren der Anatomie, Physiologie und Botanik (Dr. Fürbringer, Dr. Biedermann, Dr. Stahl); ebenso insbesondere die Ansicht von Professor A. Lang. Angesichts dieser Sachlage glaube ich auf die übrigen zehn Candidaten, welche für die Besetzung der vacanten Ritter-Professur in Frage gekommen sind (– und welche sich größtentheils selbst darum beworben haben –) nicht weiter eingehen zu brauchen. Sechs derselben sind frühere Schüler von mir, nämlich: 1. Dr. Vetter (Professor am Polytechnicum in Dresden), 2. Dr. Haacke (Director des Zoologischen Gartens in Frankfurt a/M, früher in Adelaide), 3. Dr. Hamann (Privatdocent in Göttingen), 4. Dr. Eysig (I. Assistent an der zoologischen Station in Neapel), 5. Dr. Plate (Privatdocent in Marburg), 6. Professor Dr. Marschall (Professor der Zoologie in || Leipzig). – Vier andere Privatdocenten, welche ebenfalls für die Stelle candidiren, sind nicht frühere Schüler von mir, nämlich:

1. Dr. von Lendenfeld (Privatdocdent in Innsbruck, früher in Sidney); Dr. van Heiden (in Berlin), 3. Dr. Rawitz (in Berlin), 4. Dr. Simroth (in Leipzig). Obwohl sich unter den genannten zehn Zoologen mehrere sehr tüchtige und bereits als Lehrkräfte bewährte Naturforscher befinden, müssen sie doch unter den vorliegenden Verhältnissen hinter Dr. Kükenthal und Dr. Semon zurückstehen.

Als Jahresgehalt für Dr. Kükenthal erlaube ich mir 1500 Mk. (fünfzehnhundert Mk) aus dem Ertrag der Paul von Ritter’schen Stiftung für phylogenetische Zoologie zu beantragen. Ferner bitte ich, das Gehalt des Assistenten Dr. Alfred Walter, welches aus derselben Stiftung bestritten wird und bisher 600 Mk betrug, auf 1000 Mk. (eintausend Mk.) zu erhöhen. Dr. Walter, welcher Dr. Kükenthal auf der letzten Spitzbergen-Expedition begleitete und mit ihm zusammen deren wissenschaftliche Ergebnisse im hiesigen zoologischen Institute ausarbeiten wird, ist ein vorzüglicher junger Naturforscher, gleich ausgezeichnet durch || trefflichen Character wie durch reiche systematische Kenntnisse, rühmlichst bewährt auf einer großen zweijährigen Reise in Central-Asien (Turkestan, Persien, Transkaspien) welche er im Auftrage der Russischen Regierung ausführte, und von welcher er vor einem Jahre nach seiner Bildungsstätte Jena zurückgekehrt ist.

Mit der Bitte, die vorstehenden Anträge zu befürworten, bleibe ich, hochverehrtester Herr Curator, ihr ganz ergebenster

Dr. Ernst Haeckel.

Prof. der Zoologie und Director des zoologischen Instituts.

Brief Metadaten

ID
43306
Gattung
Briefabschrift
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Zielort
Zielland
Deutschland
Datierung
16.10.1889
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
7
Umfang Blätter
4
Format
21,0 x 32,8 cm
Besitzende Institution
LATh-StA Gotha, Staatsministerium
Signatur
Dep. I, Loc. 6 o, Nr. 20, Bd. 1, Bl. 93r-96v
Zitiervorlage
Haeckel, Ernst an Eggeling, Heinrich von; Jena; 16.10.1889; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_43306