Ernst Haeckel an Ernst Schweninger, Jena, 26. Oktober 1906

ZOOLOGISCHES INSTITUT

DER UNIVERSITÄT JENA.

Jena 26.10.1906

Hochverehrter Herr Geheimrat!

In angenehmster Erinnerung an die herrlichen „Bismarck-Tage in Jena, die wir hier zusammen am 30. u. 31. Juli 1892 verlebten, erlaube ich mir, Sie um gütige Auskunft in einer Frage zu bitten, die mich viel und ernsthaft beschäftigt. Ich lernte im April 1905, bei Gelegenheit meiner Berliner Vorträge, Ihre frühere Patientin, Fräulein Maria Holgers kennen, und traf sie Anfang October, auf einer Harzreise, zufällig wieder. Viele Berührungspunkte in unserer Weltanschauung und unserem früheren Leben vermehrten meine lebhafte Teilnahme und veranlaßten sie, mir ihre harten Schicksale ausführlich mitzutheilen. || Fräulein Holgers gedachte mit herzlichem Dank und hoher Verehrung der sorgfältigen und erfolgreichen ärztlichen Behandlung, die Sie ihr in Berlin hatten zu Teil werden lassen. Da ihr schmerzhaftes Nervenleiden im letzten Sommer erneut auftrat, reiste sie im August nach Ebenhausen, in der Hoffnung, nochmals Ihrem wertvollen ärztlichen Rate folgen zu können. Leider war aber dessen Ausführung unmöglich. Nun haben sich im September ihre Leiden so gesteigert, daß sie ernstlich fürchtet, ihre anstrengende geistige und künstlerische Arbeit (– von deren Ertrage, beim Mangel jedes eigenen Vermögens ihre Existenz abhängt –) in diesem Winter nicht durchführen zu können. || Die auffallenden Circulations-Störungen in der oberen Cörperhälfte, Eiskaltwerden des Kopfes (besonders der Stirn und des Nackens), sowie der Arme und Hände, dazu bohrende Schmerzen im Gesicht und der Stirne (− „als ob eine eiserne Clammer sie einschnürte“ −), ausstrahlende Schmerzen in anderen Cörperteilen, zeitweise Unfähigkeit zu strenger gesammelter Gedanken-Arbeit, quälen Ihre arme Patientin sehr und haben sie in letzter Zeit so mutlos gemacht, daß sie von ihrem baldigen Tode spricht. Tapfer und energisch, wie sie ist, fürchtet sie diesen durchaus nicht; sie möchte aber vor Allem Klarheit über die Diagnose und Prognose ihres Leidens haben; und eventuell Ihren Rat bezüglich einer möglichen Therapie. || Meine eigenen ärztlichen Kenntnisse (deren praktische Ausübung 50 Jahre zurückliegt!) haben sich durch Nichtübung so verflüchtigt, daß ich leider außer Stande bin, zu einer klaren Erkenntniß des eigentlichen Leidens von Frl. Holgers zu gelangen. Ich richte daher (mit ihrer Einwilligung) an Sie die freundliche und ebenso dringende Bitte, mir kurz Ihre ehrliche Ansicht über Diagnose und Prognose Ihres Leidens, sowie Winke über eine mögliche Therapie, mitteilen zu wollen. Indem ich Ihnen für Ihre Mühe im Voraus meinen herzlichsten Dank ausspreche, bitte ich Sie zugleich, mir mitzuteilen, ob ich denselben durch Übersendung einiger Werke (Lebenswunder? Berliner Vorträge? Anthropogenie? etc. etc.) betätigen darf?

Hochachtungsvollst

Ihr ergebenster

Ernst Haeckel.

[Beilage: Postkarte mit Porträt von Ernst Haeckel (1890) und egh. Widmung]

Herrn Geheimrat Professor Dr. med. Ernst Schweninger aus Schloss Schwaneck bei München.

Zur freundlichen Erinnerung an die „Bismarck-Tage“ in Jena

(30. u. 31. Juli 1892)

ergebenst

Ernst Haeckel.

Brief Metadaten

ID
43251
Gattung
Brief ohne Umschlag
Institution von
Zoologisches Institut der Universität Jena
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
26.10.1906
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Besitzende Institution
Bundesarchiv Berlin
Signatur
N 2281/54: Haeckel, Ernst, Bl. 20r-21v
Beilagen
Postkarte mit Porträt Haeckels und Widmung
Zitiervorlage
Haeckel, Ernst an Schweninger, Ernst; Jena; 26.10.1906; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_43251