Jena 28 Januar 71
Verehrtester Freund!
Vor einigen Tagen war Herr Johannes Prölss bei mir und brachte mir den zierlichen Band Gedichte, den Sie so freundlich waren, mir zu senden. In den bevorstehenden Muße-Stunden der Oster-Ferien soll es mein Erstes sein, mich an Ihren Dichtungen zu erfreuen.
Augenblicklich, oder vielmehr seit fünf Wochen, befinde ich mich in großer Unruhe, in Folge meiner Berufung nach Wien. Ich war anfänglich entschlossen den Ruf anzunehmen, habe aber doch schließlich vorgestern abgelehnt, nachdem ich aus zahlreichen Erkundigungen erfahren hatte, daß die mir zugedachte || Stellung keineswegs so glänzend war, wie sie aussah.
Was Ihren bestens empfohlenen jungen Freund betrifft, so werde ich mir ein Vergnügen daraus machen, ihm mit Rath und That zu helfen, wo ich kann. Ich habe ihn gebeten, mich öfter zu besuchen. In geselliger Beziehung werde ich ihm leider freilich nicht viel helfen können, da ich jetzt sehr isolirt lebe und mich fast von jeder Geselligkeit ausgeschlossen habe. Die Ursache daran ist theils meine fast ununterbrochene Überhäufung mit verschiedenen Arbeiten, theils die fortdauernde Kränklichkeit meiner Frau, die mir viel Sorge macht. ||
Beifolgend erlaube ich mir, Ihnen einen im „Rosensaale“ gehaltenen Vortrag zu übersenden, der Sie vielleicht interessirt. Ich bedauere, Ihnen augenblicklich keine bessere Gegengabe für Ihre werthvollen Gedichte, als meinen werthlosen Vortrag, senden zu können.
In der Hoffnung, daß es Ihnen wohl geht, bleibe ich in freundschaftlicher Ergebenheit
Ihr
Ernst Haeckel.