Ernst Haeckel an Moriz Benedikt, Jena, 28. Februar 1918

Jena, 28. Februar 1918.

Hochverehrter Herr Kollega! [!]

Seit 5 Wochen bin ich krank und arbeitsunfähig. Mein altes Herzleiden hat sich infolge zunehmender Arteriosklerose (mit 84 Jahren) so verschlimmert, daß ich nur noch auf wenige Monate Lebenszeit rechnen kann. Dieser bedauerliche Zustand muß es entschuldigen, daß ich erst heute auf Ihre beiden freundlichen (Anfang Februar erhaltenen) Briefe vom 28. und 31. Jänner, sowie des „offenen Briefes“, der mich sehr interessierte, antworten kann. Wenn ich einige Jahre jünger und arbeitsfähig wäre, würde es mir zur besonderen Freude gereichen, den „offenen Brief“ ausführlich zu beantworten und zu versuchen, mich mit Ihnen über die wichtigen darin behandelten Fragen zu verständigen. Dazu reichen aber meine schwachen, täglich mehr sinkenden Kräfte nicht mehr aus. Die „Kristallseelen“, die Anfang November 1917 erschienen, sind meine letzte Publikation gewesen. Ich muß mich daher darauf beschränken, Ihnen in möglichster Kürze folgende Erwägungen zu unterbreiten und um deren geneigte Berücksichtigung zu bitten.

I. Das Buch über „Kristallseelen“ soll eine naturphilosophische Skizze sein, welche weitere gebildete Kreise (besonders Lehrer und Ärzte) über meine persönlichen Ansichten vom „Leben der anorganischen Natur“ orientieren soll.

II. Die wesentlichsten Anschauungen dieser knapp gefaßten Skizze (deren Abfassung im Sommer 1917 unter großen inneren und äußeren Hindernissen erfolgte) sind von mir schon 1866 (– vor 52 Jahren –) im zweiten Buche meiner „Generellen Morphologie“ ausführlich begründet worden, ohne die Anerkennung der Schule zu finden.

III. Die wünschenswerte ausführliche Begründung dieser monistischen und „antivitalistischen“ Ansichten, die erst seit 1904 (vergleiche Vorwort) durch die Entdeckung der „flüssigen Kristalle“, der „kernlosen Zellen“, der Mneme der Zellseelen, u. s. w. eine feste neue Gestalt genommen haben, würde eine umfangreiche Erörterung und Kritik der betreffenden Literatur erfordern und dadurch den Umfang des Buches um das Mehrfache vergrößert haben. Der Druck würde aber bei dem herrschenden Papiermangel ganz unmöglich geworden sein – abgesehen davon, daß meine Kräfte dazu nicht mehr ausreichten.

IV. Unter den vielen Mängeln meiner flüchtigen Skizze, die mir als „halbgebildeten Dilettanten“ (vergleiche Vorwort) wohl bekannt sind, rügen Sie mit Recht, daß ich viele der wichtigsten Vorgänge auf diesem schwierigen Gebiete nicht genannt habe, so vor allem Ihre eigenen gedankenreichen Arbeiten über Biomechanik, Kristallisation und Morphogenesis, Seelenkunde u. s. w. – ferner die wichtigen Arbeiten von Schroen, Herrera, Harting, Bütschli und Quincke, u. s. w. u. s. w. – Aber die Besprechung und Kritik derselben würde umfangreiche und weitschweifige Erörterungen erfordert haben, abgesehen davon, daß nur ein Teil derselben mir richtig erschien, ein anderer Teil dagegen irrtümlich.

V. Was speziell die umfangreichen und sehr interessanten Arbeiten von Schroen betrifft, so habe ich zwar seine großartigen Sammlungen und Präparate und wichtigen Abbildungen sehr bewundert, die er vor 12–20 Jahren hierselbst unserer medizinisch-naturwissenschaftlichen Gesellschaft vorführte. Zugleich habe ich aber seinen Mangel an Kritik bedauern müssen, mit dem er seine kühnen (zum großen Teil phantastischen und unhaltbaren Hypothesen) hartnäckig verteidigte. Er war ganz unzugänglich den vielen Einwänden gegen dieselben, die von Seiten der vergleichenden Anatomie und Histologie dagegen erhoben wurden.

VI. Meine eigene neue Auffassung der „Kristallseelen“, wie sie durch die Gliederung in die vier Kapitel: 1. Kristallobik, 2. Probiontik, 3. Radiobik, 4. Psychomatik gekennzeichnet ist, gründet sich in erster Linie auf die vergleichende Biologie der Probionten und der Radiolarien, mit deren Spezial-Studium ich 60 Jahre meines Lebens zugebracht habe. (Vergleiche meinen „Concordia-Vortrag“, Wien 1878, über „Zellseelen und Seelenzellen“). –

VII. Die von Ihnen erfolgreich vertretene „Rutenlehre“ und Magnetisationstheorie bedaure ich nicht für richtig halten zu können, ebenso Ihre eigentümliche Anthropogenie, die von der meinigen (1874) pelaeontologisch begründeten wesentlich abweicht.

VIII. Das Manuskript Ihres interessanten offenen Briefes (vom 28. Jänner 1918) würde ich gerne als wertvolles historisches Dokument der originellen Sammlung des hiesigen Haeckel-Archivs einverleiben, welches jetzt als „Zentralorgan für Monismus und Entwicklungslehre“ in der hiesigen Universitäts-Bibliothek untergebracht ist. (Archivar: Dr Heinrich Schmidt, Jena, Pfaffensteig 5). Falls Sie aber wünschen, sende ich es Ihnen zurück. Mit wiederholtem herzlichen Dank und besten Wünschen für Erfolg Ihrer monistischen Bemühungen.

Hochachtungsvoll Ihr ergebener Ernst Haeckel.

Brief Metadaten

ID
43169
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Zielort
Zielland
Österreich
Datierung
28.02.1918
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
2
Besitzende Institution
Unbekannt
Zitiervorlage
Haeckel, Ernst an Benedikt, Moriz; Jena; 28.02.1918; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_43169