Jena, 9.1.1919
Meine liebe gute Lisbeth!
Es war meine edle väterliche Absicht, Dich morgen an Deinem 48. Geburtstage durch einen ganz besonders lieben Glückwunsch zu erfreuen, begleitet von einem neuen Aquarell und einer Original-Votivtafel, ähnlich der vor 14 Tagen Dir übersandten „National-Versammlung“ der Radiolarien (– nämlich der Medusen! –) Aber zu meinem tiefen Bedauern war es mir unmöglich, gestern und heute dazu die nötige Zeit und Muße zu finden; unaufhörliche Besuche und dringlichste Briefe, akademische und finanzielle Geschäfte etc hielten mich die letzten, höchst unruhigen Tage beständig ina Atem und ließen mich zu keinem besinnlichen Augenblick kommen; heute kam sogar ein „bolschewistischer“ mit 12 bewaffneten socialen Matrosen, die einen „Putsch“ versuchen sollten – zum Glück ohne Erfolg!! – ||
Meine liebe Herzenstochter! Du mußt Dich also morgen mit diesem kahlen nüchternen Gratulations-Brief begnügen. Die begleitenden Kunstwerke sollen Dich später erfreuen. Es wäre sehr schön, wenn Du mit Hans (und eventuell auch Gertrud) noch im Laufe der nächsten Woche – vor den schicksalsschweren Wahlen zur republikanischen großen „National-Versammlung“ !! – nach Jena hinüber kommen könntest, wenn auch nur auf einen 1/2 Tag? Aber das Reisen ist jetzt so schwierig, höchst unsicher und unbequem, daß ich dieses Opfer nicht von Euch verlangen kann! –
In dem großen Irrenhaus, in welchem jetzt die „christliche Kulturmenschheit“ umher tobt und sich gegenseitig belügt und umbringt, ist es schwer noch an eine glückliche Zukunft zu glauben! Da denke ich ( – der die Revolution 1848 noch erlebte! –) mit Sehnsucht und Rührung an die schönen Familienfeste, welche unsere liebe Mama am 10. Januar so oft mit uns feierte (– besonders an den „Rosenball“ anno 1891, Deinen 20. Geburtstag! Der Brief muß eilig fort!
Mit herzlichsten Grüssen (an Alle) Dein treuer alter Vater
Ernst Haeckel.
a eingef.: in