Ernst Haeckel an Elisabeth Meyer, Jena, 26. April 1919

Jena 26.4.1919.

Meine liebe Liese!

Die Osterwoche, die heute Abend zu Ende geht, wurde mir durch den viertägigen Besuch von Hans und den anschließenden lebhaften Familien-Verkehr in angenehmster Weise verschönt. Sehr viel trug dazu die Fürsorge für unser leibliches Wohl bei, die Du liebevoll durch viele schöne Gaben betätigtest. Empfange für Deine rührende kindliche Liebe meinen herzlichsten Dank! Speziell danke ich persönlich Dir noch für die süßen Leckerbissen und die großartige geräucherte Speckwurst, die jeden Abend eine ungewohnte Bereicherung meines fettarmen Soupers bietet. Durch die edle Flasche süßen Weins, die ich sparsamerweise erst vorgestern angebrochen, habe und löffelweise zur Nervenstärkung verwende, war sehr willkommen, da meine Keller-Vorräte gänzlich erschöpft sind. ||

Über unsere trübseligen politischen Aussprachen wird Dir Hans mündlich berichtet haben; insbesondere die mehrstündige Konferenz am Ostermontag, in der Prof. Verworn (Bonn), Leo Schultze und später auch Rosenthal mit Hans und mir in pessimistischen Zukunftsbildern wetteiferten! Zunächst scheint der sozialistische Wahnsinn immer weiter nach links zu gehen! „Freiheit (– der Presse!), Gleichheit ( – ohne Arbeitsteilung!), Brüderlichkeit (im gegenseitigen Betrügen und Totschlagen! –) das sind die 3 hehren Ideale, deren reale Ausgestaltung sich täglich mehr illusorisch erweist! München, Leipzig (Messe!), Braunschweig u.s.w. –

Von unseren Münchnern habe ich nun schon seit 4 Wochen Nichts gehört. Der Postverkehr dahin scheint völlig unterbrochen! Und nun steht der berühmte 1. Mai vor der Türe! ||

Gestern (25.4.) sind hier 6000 Mann zuverlässige Regierungstruppen eingerückt. Ich habe als Einquartierung (auf mehrere Wochen?) auch einen Stabsoffizier bekommen, vom Regt. Kamprath, er wohnt in Hans’ Logirstube. –

Heute haben die Zeiss-Leute (Spartakisch) (– über 2000) im Volkshaussaal (Vorm. 11-1) eine große Protest-Versammlung dagegen gehalten und sind mit einer „Roten Fahne“ auf den Markt gegangen; haben auch einstimmig an die Reichsregierung in Berlin telegraphiert.!! –

– Was wird der berühmte 1. Mai bringen? Und Was die sogenannten „Friedens“ Verhandlungen?? – Man wird allmählig Fatalirt! – Persönlich bin ich froh, daß meine Kräfte täglich mehr schwinden, und ich in einigen Monaten (oder Wochen?) das tolle Narrenhaus der modernen „Kultur“ verlasse. Vorher aber hoffe ich doch sehr, mit Dir noch einmal auf unseren lieben Forst“ zu fahren!

Mit besten Grüßen an Euch Alle!

Dein treuer Vater

E. Hkl.

Brief Metadaten

ID
42517
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
26.04.1919
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
n.a.
Besitzende Institution
Archiv der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina Halle/Saale
Signatur
N21, NL Uschmann
Zitiervorlage
Haeckel, Ernst an Haeckel, Elisabeth; Jena; 26.04.1919; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_42517