Waldemar Gaertig an Ernst Haeckel, Biebrich, 25. Februar 1909
Biebrich a/Rh. den 25. Februar 1909.
Geehrtester Herr Professor Haeckel!
Ein simpler, kranker Schlossergehilfe, aber aufrichtiger Anhänger ist es, der sich erlaubt, Ihnen seine herzlichsten Glückwünsche zum Geburtstage, noch nachträglich darzubringen. Meine durch drei jährige Krankheit verursachte Schwäche, und Unaufmerksamkeit, verschuldeten zu meinem Bedauern diese Verspätung, mit der vorstehendes Poëm Sie antrifft. Vielleicht hat es bei aller Unschicklichkeit auch sein Gutes, wenn es etwas post festum ankommt, in welchem es leicht in Gefahr laufen konnte, wegen seiner Unwichtigkeit unbeachtet zu bleiben.
Nicht bloßea Konvenienz, sondern ehrliche Begeisterung und durch langes Studium gewonnene Überzeugung von der Richtigkeit, wie Redlichkeit Ihrer Bestrebungen, veranlaßten mich, Ihnen meine Antheilnahme kund zu thun. Als mir, dem damals neunjährigen Knaben, mein vielgeliebter Vater starb, fing schon der angeerbte Wahrheitsdrang an der „Allgüte Gottes, unseres liebenden Vaters“, zu zweifeln an. Das war mir rätselhaft, warum mein Vater so früh sterben sollte. Sechzehnb Jahre alt, viel mir Büchners „Kraft u. Stoff“ zufällig in die Hände und ergriff, erschütterte mich sehr. Der gewaltige Eindruck auf mein Gemüt und meine Weltanschau-||ung schwächte erst nach acht Wochen allmählig ab. Wenn ich es auch nicht bis in’s einzelne begriffen hatte, so vernichtete es doch den Begriff vom persönlichen Gott vollständig. Planlos las ich bis zum zwanzigsten Jahre, in welchem meine bis jetzt schon drei Jahre dauernde Krankheit (Lungentuberkulose) anfing, alle mir nur erreichbaren Naturwissenschaftlichenc Aufsätze.
Nun ward ich wählerischer und gewissenhafter bei der Auswahl meines Lesestoffs. Aus Büchners „Kraft u. Stoff“ Lektüre waren mir besonders zwei Namen in Erinnerung, der Ihrige, und Schopenhauer.
Natürlich wußte ich in meiner Unkenntnis nicht beider Bedeutung zu schätzen; nur hörte ich einmal Schopenhauer sei Atheist, was mir ausreichend schien um die richtige Aufklärung über das wahre Wesen der Dinge zu bekommen. Ich habe ihm viel zu verdanken. Nicht seinen Dualismus, vor dem ich durch Büchner gefeit war, wohl aber seinem Pessimismus, der mir Trost gab im Kranksein, und seiner Geringschätzung und Verachtung der Unwissenheit. Er war der unmittelbare Urheber meines Ringens nach mehr Wissen und Bildung als mir die Volkschule mitgegeben hatte. So kam ich über Büchner, Darwin (Abstammung d. Menschen, Entstehung d. Arten) zu „Welträtsel“ und „Lebenswunder“.
Nach und nach erwarb ich mir eine kleine Bibliothek von jetzt schon 60 Bänden, meistens gebrauchte, oder Reklam’sche Ausgaben.
Darunter: Homer, Herodot, Lucretius, Schiller, Schopenhauer, W. Scott, F. A. Lange, Geschichte d. Materialismus, Schweglerd, Geschichte d. Philosophie, Darvin, Büchner und „Welträtsel“ und „Lebenswunder“ (Volksausg.) Diese sind alle größtenteils sehr billig zu haben.
Leider sind es Ihre vorzüglichen Werke, wie: „Natürliche Schöpfungs-||geschichte“ M. 10.-; „Abhandlungen a. d. Entwicklungslehre“ M. 13.50; „Anthropogenie“ M. 18.-; „Wanderbilder“ (Volksausg.) M 24.- u. 14.; „Generelle Morphologie“ M. 14. – (nach Hoehlers Komp. Katalog) für einen Handwerker fast unerschwinglich. Ich vermute, dieser Übelstand wird von manchem Minderbemittelten, der gerne tiefer in diese Materie eindringen möchte, als es durch das Studium der „Welträtsel“ u. „Lebenswunder“ möglich ist, schwer empfunden, weil er hemmend wirkt. Mit dem Leihen aus irgendeiner Leihbibliothek ist es wegen der genau und meist kurz bemessenen Zeitdauer immer mißlich. Und dann wer möchte nicht ein solches Werk als Eigentum besitzen, um es zu jeder Zeit greifen zu können. Schon Schopenhauer klagte über den hohen Preis anderer Werke.
Nähere Bekanntschaft mit Ihrer hervorragenden Persönlichkeit, und Ihrem grandiosen Werke, machte ich vor vierzehn Tagen durch Bölsches Schrift „Ernst Haeckel“, „Ein Lebensbild.“ Diese glänzende Schrift brachte meine Teilnahme und Begeisterung auf ihren Höhepunkt. Ich mußte schreiben, sollte es auch zu spät werden. Und machte Verse mit mehr gutem Willen, als Talent.
Um Entschuldigung für meine Aufdringlichkeit bittend, dem unerreichten Forscher und Philosoph, dem Wohltäter der Menschheit noch viele glückliche Jahre der wohlverdienten Ruhe wünschend, verbleibe ich
Mit aufrichtiger Verehrung
Hochachtungsvoll ergebenst
Waldemar Gaertig. ||
P.S. Wegen meiner ungeübten Handschrift und einer augenblicklichen Unpäßlichkeit, ließ ich inliegendes Poëm von meiner geübteren Schwester niederschreiben. Daher die Verschiedenheit der Handschrift.
[Beilage: Gedicht – Handschrift von W. G.‘s Schwester]
Dem kühnen edlen Wahrheitskünder
Herrn Professor Ernst Haeckel
Zum Geburtstag.
Gegrüßet sei’st du kühner Wahrheitskünder,
Du unerschrockner, edler Überwinder
Der Geistesknechtschaft, die uns lang bedrückt!
Du warst’s, Du Großer edler Geister!
Der im verein mit Darwin, diesem Meister,
Ein strahlend Licht in unser Dasein sandt!
Du rangst uns frei von jeder Zweifelsucht,
Und gab’st sie uns, die schönste Wissensfrucht,
Die Religion des Wahren, Guten, Schönen.
Drum jubeln heute alle freien Denker
Des ringsbewohnten Erdball’s, ihrem Lenker
Zum fünfundziebzigsten Geburtstag zu:
„Von ew’ger Dauer ist Dein Werk, das Geniale;
Der Menschheit schenkt es neue Ideale,
Die keine Macht ihr nochmals rauben kann.“
a eingef.: bloße; b korr. aus: Sechszehn; c korr. aus: Naturwissentschaftlichen; d korr. aus: Schewegler