Ernst Haeckel an Charlotte und Carl Gottlob Haeckel, Würzburg, 1. Juni 1853

Würzburg 1/6 1853

Liebe Eltern!

Erst heute komme ich dazu, euch einmal wieder zu schreiben, da die wundervollen Polypen, Quallen, Korallen u.s.w. mich die ganze vorige und jetzige Woche von früh 5 bis Abends 10 beschäftigt und mir das größte Vergnügen gemacht haben. Meine zoologische Passion, die mich schon als kleinen Jungen die Naturgeschichte der Thiere noch vor der dera Pflanzen mit ganz besonderm Interesse treiben ließ und meine Lieblingsbeschäftigung war, ist jetzt wieder recht lebhaft erwacht und bereitet mir nun natürlich einen weit höhern Genuß, da mir durch Kenntniß der Anatomie nun auch der Weg zur Erforschung des wundervollen innern Baues der Thiere geöffnet hat. Man wird wirklich ganz unwillkührlich bei jedem Schnitt von Erstaunen und Bewunderung der göttlichen Güte und Allmacht hingerissen, und ich kann es nicht begreifen, wie grade Leute die sich mit diesen herrlichen Wundern beschäftigen und ihren Einzelnheiten nachgehen, die schaffende weisheitsvolle Gotteskraft bezweifeln und ganz wegläugnen können. Außer der vergleichenden Anatomie beschäftigt mich auch die Physiologie sehr, so daß ich, obwohl weniger Kollegien, als je, doch auch fast ebenso wenig freie Zeit habe. Das schlechte Wetter, das die ganze Zeit in strömenden Regengüssen sich Luft machte, kam mir so sehr zu Statten, indem es mich nicht in die schöne Frühlingsnatur hinauslockte, die ich sonst mit ganzer Wonne genieße. ||

Vorigen Sonnabend nahm ich wieder an einer botanischen Excursion Theil, die ungefähr 5 Stunden dauerte und mein Knie doch etwas anstrengte, was es ein paar Tage durch starkes Musiciren kund gab; jetzt ist es wieder auf dem alten Punkte. Wir suchten in einem Walde hinter Versbach die schönste deutsche Orchidee, das herrliche Cypripedium Calceolus; ich war so glücklich, von den 4 Exemplaren, die von dieser außerordentlich schönen und seltenen Pflanze nur gefunden wurden, 2 zu finden. Eine einzige, höchstens 2 sehr große Blumen stehen einzeln am Ende des schlanken, vielblättrigen Stengels. Vier Blumenblätter sind schön dunkelpurpurroth, schmal und wellig, und stehen in Form eines Kreuzes einander gegenüber (a in der Figur). In der Mitte zwischen diesen sitzt ein kleines 5tes, meistens kahnförmiges Blumenblatt (c) und darunter ein sehr großes 6tes (b), das prächtig goldgelb gefärbt, hohl, und ganz wie ein Holzschuh oder ein rundlicher Nachen gestaltet ist. Deshalb b heißt diese herrliche Pflanze auch „Frauenschuh“. Wie ich mich über diesen längstersehnten Fund freute, könnt ihr euch kaum denken. Auch außerdem fanden wir eine der schönsten und größten Orchideen, die dunkelbraune, weiß punktirte Orchis fusca und ich war noch so glücklich, von einer sehr gemeinen Wickenart (Vicia sepium) die immer blau blüht, Exemplare mit gelben Blüthen zu finden. Auf dem Rückweg fanden wir noch eine reizende, kleine Primel mit weißen Bthen: Androsace septentrionalis. ||

Vorigen Montag machte ich aus selbst gesammelten Maikräutern eine ausgezeichnete Maibowle, wozu ich meinen Danziger Freund, Hein, und einen Stralsunder Bekannten desselben, Ziemssen, der mir sehr wohl gefällt, eingeladen hatte. Wir waren sehr vergnügt, ich trank mit beiden Schmollis, und mir fehlte nichts weiter, als meine lieben Eltern und Ziegenrücker, deren ich herzlich gedachte, und auf deren Wohl ein „Salamander“ getrunken wurde. Auch meine gute Wirthin, die ich neulich sehr in Schrecken setzte, als ich c einen selbst scelettirten Arm mitbrachte, und noch dazu von einem, wegen unglücklicher Liebe sich selbst ertrunken habenden Dienstmädchen, das sie unglücklicherweise kannte, wurde d mit ein paar Gläsern Maitrank tractirt, versöhnt und konnte nicht genug das waldduftende „herzige Tränkle“ rühmen, das sie noch nie gekostet hatte. –

Mit Bertheau, Lavalette und Steudner, die jetzt täglich zusammen Whist spielen, komme ich jetzt wenig zusammen aus verschiednen Gründen. Sie sind mir im Ganzen gar zu üppig, und wenn ich mit ihnen kneipen gehe, thun sie nichts, als mich ermahnen, Bier zu trinken, und mich zu verlieben, was sie für das einzige Rettungsmittel halten, mich zum Menschen zu machen, und wovon mir eins so gräulich und überflüssig erscheint, wie das andre. Auch bei Schenk bin ich ziemlich in Ungnade gefallen, da ich sein langstieliges Colleg nicht angenommen hatte, worauf er sich sehr gespitzt haben muß. – ||

Am vorigen Donnerstag war hier „Fronleichnamsfest“, wirklich ein Hauptspectakel, von dem mir meine Wirthin schon wochenlang vorher nicht genug zu erzählen wußte, und das mir fast gräulich großartig vorkam. In meinem Leben hatte ich noch keine solche Procession gesehen. Sie dauerte von 8–12. Das Landvolk der ganzen Umgegend war dazu herbei geströmt, die ganze Stadt war festlich mit Guirlanden und Fahnen geschmückt, alle Straßen mit Blumen bestreut, e die Halle des Juliusspitals in einen Tempel mit Altären verwandelt, das ganze Militair in Galla consignirt, dazu auch noch die sogenannte „Landwehr“, etwa das, was Berliner Bürgerwehr und Merseburger Schützen zusammen sind, nur noch 10mal unmilitärischer, spießbürgerlicher und lächerlicher. Es fanden sich darunter wirklich die allerkomischsten und groteskesten Figuren, die sich in der himmelblauen Uniform mit dem schweren Czako ganz einzig machten; z. B. Schneidermeister mit langen Bärten, Tischler mit Bärenmützen als „Beilesleut“ u.s.w. Der Zug selbst f war das bunteste und abenteuerlichste, was man sich nur denken kann; in vieler Hinsicht vom Erhabnen zum Lächerlichen und Verächtlichen nur ein Schritt. Die verschiedenen Aufzüge mit ihrer äußern Pracht, ihrem eigenthümlichen Character, boten soviel Auffallendes dar, daß man ein ganzes Buch darüber schreiben könnte. Unter andern zogen alle Gewerke mit ihren Fahnen, Insignien und Standarten auf, dann alle Schulen in besondern Festkleidern, der Magistrat und die Regierung in Civiluniform, || Kapuziner in ihrer braunen Eremitentracht, allerlei Mönchsvolk, die große Zahl der katholischen g studiosis theologiae, dann lange Reihen kleiner und großer Mädchen in weißen Kleidern und mit Blumen geschmückt. Dazwischen überall singende und schreiende Gruppen von Priestern, welche mit Glöckchen klingelten, Weihrauch räucherten u.s.w. Von Zeit zu Zeit wurde an gehalten und an eigens dazu errichteten Altären Messe gelesen, wobei alles auf die Kniee fiel und wir sehr scheel angesehn wurden, daß wir nicht das Gleiche thaten. Unter einem Baldachin gingen oder wurden vielmehr getragen der Bischof und andere höhere Geistliche, glanzvoll in Gold und Purpur gekleidet, dann nicht minder wohlgenährte, fettglänzende, fortwährend Prisen schnupfende, violette Domherrn, die mich lebhaft an Merseburger dito Individuen erinnerten. Dazwischen kam dann von Strecke zu Strecke eine goldne Madonna, oder 1 silberner Heiliger in Lebensgröße, mit allerlei Kettchen und Ringelchen und Kleinödchen behangen, wie ein Kinderspielzeug klingend und rasselnd, getragen von vier weißgekleideten Jungfrauen (ja nicht oder auch im wahren Sinne des Worts zu nehmen!); dann wieder lange Reihen Andächtiger, die einem wie 1 Marktschreier sich gerirenden Vorbeter nachsangen, sich dabei aber ganz gemüthlich unterhielten, lachten und sich an der Pracht des Zugs ergötzten. Auf einmal kam auch eine sehr lange und weite Lücke im Zuge und in menschenleerer Öde wanderten ganz allein die beiden „Unglückschwestern“, von denen ich eine Skizze im Beiblatt mitschicke, und denen alle Menschen scheu auswichen, die aber von uns Studenten mit lautem Hurrah! empfangen wurden. ||

Sehr gut machten sich auch die Professoren in ihren Facultätsh-Talaren, die Mediciner grün, die Juristen roth u.s.w. Die Katholischen müssen sämmtlich mitgehen, weshalb Schenk ein paar Tage vorher bedenklich „erkrankt“, viele andere Mediciner verreist waren.

i Zu all ? dieser Augenlust sollte man auch was Ordentliches hören, weshalb den ganzen Vormittag von der Festung herab die Kanonen gelöst wurden, was sich von unten ganz prächtig ausnahm. Kurz es war 1 Getümmel und Spectakel, wie er sich gar nicht beschreiben läßt. Ich sah die ganze lange Geschichte mit ein paar netten j Holsteinern an, welche so was auch noch nie gesehn hatten, und ebenfalls mehr empört, als erbaut davon waren. Es machte wirklich müde.

Um Eure große Viehausstellung bei Krolls beneide ich euch; die hätt ich sehn mögen, lieber, als diesen Jahrmarkts- oder Fastnachtsspectakel von Procession.k

Nun noch ein Wort zu Dir, meine liebste Mutter, wegen Deines Wunsches, mich den Winter in Berlin zu haben. Wie sehr dies auch mein eigner Wunsch ist, so kann derselbe doch unmöglich schon nächsten Winter erfüllt werden. Ihr wißt selbst, liebste Eltern, wie außerordentlich gern ich einmal wieder ganz mit euch lebte, die ihr ja meine einzige Liebe und Sehnsucht seid; auch grade nächsten Winter könnten wir so nett zusammen leben. Ihr seid ja das Einzige, was mir hier so sehr fehlt. Wenn ich euch hier hätte und mit euch alle meine wissenschaftlichen und Natur-Genüsse so theilen könnte, wie ich wollte, so lebte ich l jetzt glücklicher und gesünder, als je. Ich denke, ich brauche euch dies nicht erst zu m versichern; ihr wißt ja selbst, wie ich fast zu sehr an euch gewachsen bin und immer bei euch sein möchte. || Allein grade nächsten Winter werde ichn hier die Collegia zu hören haben, um derentwillen die meisten allein herkommen, und die überhaupt sonst fast gar nicht, und nirgends so classisch, wie hier, gelesen werden. Hieher gehört vor allen der mikroscopische Kursus bei Kölliker, auf den ich schon jetzt brenne; sodann die allgemeine Pathologie und pathologische Anatomie von Virchow, für die die andern schwärmen. Endlich sollen noch 2 junge, sehr tüchtige Professoren herkommen, an Stelle des alten Pathologen, und des alten Chirurgen, die jetzt pensionirt werden. Außerdem habe ich auch schon auf das Praepariren der Arterien und Nerven für den Winter abonnirt, was man [!] in Berlin nur äußerst schlecht und unbequem geht. Es würde also, wenn ich nächsten Winter nach Berlin ginge, wo ich von allen diesem nichts habe, wieder ein neuer Mißgriff rücksichtlich meiner Collegia sein, wie ich deren schon so viele gethan habe. Viel besser wäre ich diesen Sommer dort geblieben und hätte den klassischen Johannes Mueller gehört, was mich ewig reuen wird. Viel wahrscheinlicher ist es daß ich nächsten o Sommer zu euch komme, da ich wohl keinesfalls nach Heidelberg oder Bonn gehen werde. Doch das Nähere hierüber läßt sich ja alles viel besser mündlich auseinandersetzen. Wenn ich einmal wieder nach Berlin jetzt gehe, gehe ichp wohl nicht wieder fort. Überdies wird der nächste Winter verschwunden sein, ehe wir uns umsehn. Es sind bloß 4 Monate. Und die Hälfte davon, 2 ganze Monate und noch mehr, || sind wir ja vorher in Rehme und Ziegenrück zusammen. Wie ich mich schon jetzt auf dieses herrliche Herbstleben freue, ganz besonders in Ziegenrück, könnt ihr euch kaum denken. In Betreff der Bücher, die wir dort zusammen lesen wollen, liebe Mutter, hatte ich mir folgendes gedacht: Ich bringe Humboldts Ansichten der Natur, Schuberts Spiegel der Natur (der Dir ja so sehr gefiel), und Schleidens Pflanze (vielleicht!) mit; Du, dachte ich, solltest Göthes Wahrheit und Dichtung, noch was von Schiller, Göthe oder Lessing (vielleicht Laokoon) mitbringen, und Immermanns Münchhausen, falls Du ihn irgendwo auftreiben kannst. Ich möchte ihn sehr gern einmal lesen, da er q als der klassischste und beste deutsche Roman allgemein gepriesen wird. Außerdem bringe ich auch Vogts zoologische Briefe mit, die Dich gewiß auch stellenweis interessiren werden. Solltest Du hiermit nicht einverstanden sein, r so schlage mir andres vor; ich würde dann Reisebeschreibungen vorschlagen, auf die ich jetzt auch periodisch versessen bin, und die ich mit Leidenschaft schmökern würde, wenn ich Zeit hätte. Vielleicht könntest du irgendwo die ausgezeichneten Reisen, von Darwin, Poeppig, Tschudi oder Humboldt geborgt bekommen, oder was von Kohl. Vielleicht könnte Vater so was von Karo mitbringen, der z. B. Tschudis Reise nach Peru, auch Münchhausen, hat. –

Nun, ihr könnt das ja noch lange überlegen. –

Die herzlichsten Grüße an No 6 und an alle meine Freunde. Ich bleibe immer mit derselben innigen Liebe euer treuer alter Junge

Ernst H. ||

N.B. Diese sogenannten „Unglücksschwestern“ sind die Töchter eines verstorbenen Obersten. Sie kennen keine Menschen; und gehen den ganzen Tag miteinander lautlos und still spaziren, immer in der bezeichneten Tracht, mag es stürmen und schneien und regnen, oder lieblicher Sonnenschein sein. Alle Leute gehen ihnen aus dem Wege, weil sie den bestimmten Glauben haben, daß ihnen, wenn sie an ihnen vorbeigehen, etwas Unglückliches an selbem Tage passirt. Nun kann ich mir auf einmal erklären warum ich ein solcher Pechvogel bin; ich habe nämlich das Glück ihnen alle Tage unweit meiner Wohnung zu begegnen. Ich hatte mir schon längst über diese bizarren Figuren den Kopf zerbrochen und erfuhr jetzt durch meine Wirthin, daß es früher ihrer 3 Schwestern waren. Die dritte war noch länger, dürrer und skeletartiger, als die zweite, welche halb blind ist. Sie war stocktaub. Meine Wirthin kennt sie bereits seit 25 Jahren, und sieht sie immer im nämlichen Anzuge, auf dieselbe Weise, wie ewige Juden, herum wandern. Sie verdienten wirklich einmal ordentlich abgemalt zu werden.

H. ||

Die Pechschwestern von Wuerzburg. 26/5 53.

a gestr.: der; b gestr.: war; c gestr.: neulich; d gestr.: da; e gestr.: das; f gestr.: b; g gestr.: Ins; h gestr: Dekanats; eingef.: Facultäts; i gestr.: Der; j gestr.: ,; k eingef.: Um Eure … von Procession.; l gestr.: gl; m gestr.: s; n eingef.: ich; o gestr.: W; p gestr.: x; q gestr.: der als klassischste; r gestr.: sch

Brief Metadaten

ID
41882
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Königreich Bayern
Datierung
01.06.1853
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
10
Umfang Blätter
5
Format
13,7 x 21,1 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 41882
Illustrationen
2 egh. Zeichnungen Haeckels: Orchidee / Die Pechschwestern von Würzburg
Zitiervorlage
Haeckel, Ernst an Haeckel, Carl Gottlob; Haeckel, Charlotte; Würzburg; 01.06.1853; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_41882