Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Hans Sterneder, Jena, 28. April 1904

Nach meiner Rückkehr aus Italien, wo ich den letzten Winter verbrachte, fand ich hier in Jena eine erdrückende Fülle von Briefen, Drucksachen und anderen Postsendungen vor. Darunter befanden sich zahlreiche nachträgliche Glückwünsche zu meinem siebzigsten Geburtstage, den ich am 16. Februar d. J. in Rapallo an der Riviera levante beging; ferner sehr viele Anfragen betreffend schwierige Probleme, die ich in meinem Buch über „die Welträthsel" ungenügend erörtert habe. Die Antwort auf diese philosophischen Anfragen werden die geehrten Correspondenten in einer biologischen Schrift finden, die ich während des Winters am Gestade des Mittelmeeres verfasst habe, und die im nächsten Herbst als Ergänzungsband der „Welträthsel" unter dem Titel: „Die Lebenswunder“ erscheinen wird.

Da es mir leider unmöglich ist, allen den geehrten Correspondenten (– deren Zahl allein im letzten Jahre Dreitausend überschritten hat –) persönlich zu antworten, muss ich Sie bitten, in diesen Zeilen meinen besten Dank für Ihre Teilnahme an meinen Arbeiten entgegen zu nehmen. Zugleich möchte ich Sie aber daran erinnern, dass die monistische Weltanschauung, die ich als Ergebniss meiner Lebensarbeit in meinen Schriften niedergelegt habe, ebenso unvollkommnes Stückwerk bleibt, wie die Philosophie aller anderen denkenden Menschen. Viele offene Fragen würde ich auch dann nicht beantworten können, wenn mir Zeit und Kraft in genügendem Maasse zu Gebote stünden. Leider ist dies aber nicht der Fall. Ich kann daher auch den zahlreichen Bitten um Besprechung von Schriften und Durchsicht von Manuskripten zu meinem Bedauern keine Folge leisten. Indem ich das achte Decennium eines vielbewegten. arbeitsfreudigen und kampfreichen Lebens antrete, fühle ich dringend das Bedürfniss nach beschaulicher Ruhe und verzichte auf weitere Arbeit in dem Bewusstsein, nach besten Kräften zur Erkenntniss der natürlichen Wahrheit beigetragen zu haben.

ERNST HAECKEL.

JENA, 28. April 1904.

[handschriftliche Widmung]

Lieber Herr Sterneder!

Herzlichen Dank für Ihren lieben Brief! Die „Natürliche Schöpfungsgeschichte“ können Sie behalten.

Mir geht z. Z. leidlich.

Beste Grüße!

Ihr

Ernst Haeckel.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
28.04.1904
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
Franz-Michael-Felder-Archiv, Bregenz, NL Hans Sterneder
Signatur
N 54: B: 108
ID
41815